Gewendete Körper, gewendete Räume

In „Stadt in Bewegung“ analysiert Lea Sauer Flanerie und Subjektivität im Gegenwartsroman

Von Vanessa FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vanessa Franke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Flaneur sowie seine kritisch gewendeten Pendants sind in der Literaturwissenschaft, dank der posthumen Veröffentlichung von Walter Benjamins Passagen-Werk in den 1980ern, beliebte Analyseobjekte. Auch die 1987 geborene Autorin Lea Sauer hat mit diesem literaturwissenschaftlichen Band nicht das erste Mal über das Flanieren geschrieben. Nach ihrem Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig veröffentlichte sie bereits 2019 den Band Flexen – Flâneusen schreiben Städte zusammen mit dem Autor*innenkollektiv kollektiv flexen. Darin versammelten sich verschiedenste persönliche und politische Perspektiven auf die Praxis des Flanierens von Frauen*, People of Colour und queeren Menschen. Es sind Gegennarrative und -figuren zum klassischen als männlich und Weiß identifizierten Flaneur der europäischen Kulturgeschichte; die berühmtesten unter ihnen wohl Charles Baudelaire und Walter Benjamin. Letzterem ist nun in Stadt in Bewegung. Flanerie und Subjektivität im Gegenwartsroman (2024), eine insbesondere raumtheoretisch informierte Studie über flanierende Subjektformen in der Literatur, ein eigenes, wenn auch kurzes Kapitel gewidmet.

Die Monographie, erschienen bei Königshausen & Neumann, basiert auf Sauers Dissertation, mit der sie an der RPTU Landau und der Université Polytechnique Hauts-de-France promoviert wurde. Darin überführt sie den Flaneur, emblematische Figur der Moderne und der modernen Literatur, in die Gegenwart und die Gegenwartsliteratur.

Zunächst wird das Thema nachvollziehbarer Weise über verschiedene Grundbegriffe und Diskurse wie Subjekt, Raum und Erfahrung eingeleitet, um dann über die Schlüsselfigur Benjamin einen sorgfältigen, aber nicht überladenen Rückblick von der Flanerie der Moderne bis in die Postmoderne zu geben. Davon ausgehend knüpfen sich schließlich die Analysen postmodernen literarischen Flanierens als Hauptteil der Studie an.

Während sich die „Flexen“-Anthologie durch ihren hochaktuellen und progressiven Ansatz auszeichnete, ist der einleitende Forschungsstand eher allgemein gehalten: Es finden sich neben den einschlägigen Verweisen zunächst keine Hinweise auf kritische und alternative Abhandlungen des Flanierens, zum Beispiel aus den Feminist oder Queer Studies. Dies wird dann jedoch im Exkurs „(In)Visible Flâneuse?“ nachgeholt, in dem das Flanieren vor allem als Körpererfahrung perspektiviert wird:

Die Flâneuse wird somit, wenn nicht gar zu einer Initiatorin, so doch zumindest zur Katalysatorin für die Entdeckung des Flaneurs als offenes Wahrnehmungskonzept.

Hier zeigt sich auch der spezifische Einsatz von Sauers Arbeit, das Flanieren vom Raum und vom empfindenden Körper her zu denken. Wenn Raum seit dem spatial turn nicht mehr als absolute Größe und containerartige Form gedacht wird, hat dies auch Auswirkungen auf die literarischen Darstellungen von Raum und Bewegung. Weiter soll der Raum vor allem als Affektraum verstanden werden, der von einem Subjekt polysensuell wahrgenommen wird, wie dies unter anderem die Situationist*innen und Psychogeograph*innen der 1960er Jahre in ihren künstlerischen Arbeiten etablierten. Die postmodernen Flaneure und Flaneusen sind also im Vergleich zu ihren modernen Pendants vor allem Körper in Bewegung, die sich mitnichten in einer Hoheitsposition befinden, sondern vielfältigen Sinneseindrücken ausgesetzt sind. Spannend und überzeugend ist in diesem Zusammenhang Lea Sauers Hauptthese, dass der Körper in der Flanier-Literatur nicht allein zum Medium von Stadtbildern, sondern vielmehr von neuartigen Subjektkonstruktionen wird.

Dabei stellt sich fortlaufend die Frage, inwiefern der Stadtraum überhaupt als Zeichensystem ‚gelesen‘ und in literarischen Text überführt werden kann. Die Annahme der eindeutigen Lesbarkeit des Raums löst sich im Übergang von der Moderne zur Postmoderne immer mehr auf (zum Beispiel bei Georges Perec) und die literarischen Betrachtungen wenden sich ins Innere der Erzählinstanzen. Der Einzelne ist nur noch ein „fragiles Gebilde […] im ständigen Abgleich mit der urbanen Umgebung“. Doch, so hält Sauer fest, findet diese ästhetische Wende bereits im Zuge der Moderne statt. Man denke beispielsweise an Virginia Woolfs Mrs Dalloway, in denen Außenraum und Innenraum sich teilweise bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander falten. Eine klare Trennung von modernen und postmodernen Schreibweisen des Flanierens hält den Einzelfällen aus der Literatur also im Zweifel nicht stand.

Moderne und Postmoderne stehen in der Struktur der Arbeit allerdings klassisch einander gegenüber. Dieser Aufteilung liegt hier die Prämisse zugrunde, dass gegenwärtige Flaneure immer auch postmoderne Flaneure sind. Postmoderne Subjektivität, postmoderne Literatur und Gegenwartsliteratur in Bezug auf das Flanieren werden von Sauer nebeneinandergestellt, was insofern einleuchtet, da der Flaneur sich eben aus der Moderne ableitet. Dennoch verortet sich auf diese Weise ein Genre wie der Nouveau Roman in einer „Polyphonie“ der postmodernen literarischen Flanerien erst einmal auf derselben Ebene mit Romanen der 2010er Jahre, zum Beispiel Open City des nigerianisch-amerikanischen Schriftstellers Teju Cole– ein Verhältnis, das sich weiterführend problematisieren ließe, denkt man allein an die interdisziplinären Paradigmenwechsel vom Urbanen hin zum Globalen und den Global Cities, und weiter zum Post-Globalen und Planetarischen, auch im Zusammenhang mit (Stadt)Räumen. Eine solch differenziertere Kategorisierung anstelle der „umstrittenen Postmoderne“ hätte eventuell auch die Auswahl des primären Textkorpus exemplarischer Werke von 1992 bis 2017 klarer begründen können. Eventuell liefern die unterschiedlichen Räumlichkeiten in den Romanen dahingehend Hinweise: Virtuelle und transhumane Räume stehen am Ende dem analogen Großstadttreiben gegenüber und eröffnen neue Zugänge zum Thema des Flanierens.

Interessant ist, dass in der Transposition des Flanierens von der Moderne in die Gegenwart sich auf der operativen Ebene der Fokus von der althergebrachten Figur hin zu einer Praxis im steten Wandel verschiebt, vom Wer oder Was vielmehr zum Wie, also zur Frage, wie überhaupt eine Flaneur-Figur oder eine Stadt im Text über Sinneseindrücke hergestellt wird – beziehungsweise wie bestimmte Subjektvorstellungen dadurch konstituiert, inszeniert oder aufgelöst werden können. Diese Verschiebung schlägt sich allein im Titel der Arbeit nieder, der den Flaneur (oder die Flaneuse) nicht enthält, sondern eben das Verb des Flanierens.

Die Leitfrage der Studie nach den Schreibweisen vom flanierenden Subjekt in Großstadträumen ist vielleicht nicht besonders neuartig, aber deshalb nicht weniger relevant in Bezug auf den Gegenwartsroman, der diesen Topos immer weiter und aus diversen Perspektiven fortschreibt. Dies zeigt die Autorin anhand fünf exemplarischer, chronologisch geordneter close readings auf: Wilhelm Genazinos Leise singende Frauen (1992), Patrick Modianos Dans le café de la jeunesse perdue (2007), Teju Coles Open City (2011), Tao Lins Taipei (2012) und Frederika Amalia Finkelsteins Survivre (2017) über die Bataclan-Attentate in Paris. Diesen Romanen wohnen unterschiedliche körperbasierte Streifzug-Erfahrungen inne, wie Genazinos „gedehnter Blick“, das räumliche Orientieren bei Modiano, Teju Coles vielschichtige Stadt-Atmosphären, die Auflösung in der augmented reality bei Tao Lin, die Angst vor dem Terror bei Finkelstein. Gemeinsam ist ihnen, dass Raum und räumliche Erfahrung entgrenzt sind, schließt Sauer, und dass in ihnen allen die traditionelle Romanform unterwandert werde. Außerdem handele es sich bei den postmodernen Flaneuren und Flaneusen um „hybride, spielerische Erzählinstanzen“, welche hybride Subjekte im Sinne von Andreas Reckwitz verkörpern. Interessant ist am Ende vor allem der innovative Zusammenschluss von Flanieren mit dem Autofiktionstrend der Gegenwart: Die Figur des Flaneurs suggeriere aufgrund seiner subjektiven, sinnlichen Wahrnehmungsperspektive Intimität und sei damit ein idealer Ausgangspunkt für autofiktionale Erzähltechniken. Die Tatsache, dass es sich beim Flaneur historisch gesehen oft um eine Schriftsteller-Figur handelt (siehe allen voran Baudelaire), trage ebenso zur Verwandtschaft von Flaneur-Literatur und Autofiktion bei. Über das Flanieren lassen sich Fragen des Schreibens verhandeln, wie sich umgekehrt über das Schreiben Fragen der Identität in der Großstadt adressieren lassen. Die von Sauer besprochenen Flaneur-Romane seien somit zumindest teilweise auch als autofiktional inszeniert.

Lea Sauer legt mit „Stadt in Bewegung“ eine insgesamt schlüssig konzipierte und sorgfältig gearbeitete Studie mit detaillierten Textanalysen vor, die sich Literaturwissenschaftler*innen und – aufgrund der im Vergleich stehenden transkulturellen Analysen – insbesondere Komparatist*innen empfiehlt. Sauers angenehm unaufgeregte und klare Schreibweise macht die Lektüre außerdem zu einem kurzweiligen und flüssigen Erlebnis. Man darf gespannt sein, welchem Gegenstand sich die Autorin in ihrem literaturwissenschaftlichen Schreiben als nächstes widmet, oder ob sie ihre Studien zu Körper-in-Bewegung noch weiter ausbauen wird. 

Titelbild

Lea Sauer: Stadt in Bewegung. Flanerie und Subjektivität im Gegenwartsroman.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2024.
333 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826079177

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