Moralinszenierung: Gut-Sein als Strategie der Selbstdarstellung
In seinem Buch „Moralspektakel“ analysiert der Philosoph Philipp Hübl Ursachen und Folgen der strategischen Nutzung von Moral
Von Gertrud Nunner-Winkler
Besprochene Bücher / Literaturhinweise2016 forderte der AStA der Alice Salomon Hochschule in Berlin, ein Gedicht von Eugen Gomringer an der Fassade zu übermalen. Die Frauenbeauftragte sagte in ihrer Stellungnahme: „In der Reihung ‚Alleen, Blumen und Frauen und ein Bewunderer‘ wird die Frau zum Objekt gemacht. Die Frau wird gemustert. Sie wird auf ihr Potential als Sexualpartnerin gescannt.“ Heftiger Streit entbrannte, intensive Kontroversen wurden ausgefochten. Der Vorfall illustriert Aspekte dessen, was Hübl ein „Moralspektakel“ nennt: Verfehlungen werden angeprangert, „wo Normverletzungen kaum noch nachweisbar sind oder wo gar kein messbarer Schaden entstanden ist.“ Im Kern ist ein Moralspektakel „eine moralische Auseinandersetzung, in der es nicht um die Sache, sondern vorrangig um Selbstdarstellung geht“. Dabei wird Moral als strategische Ressource eingesetzt: Man setzt sich als moralisch engagiert in Szene um der Vorteile willen, die man sich davon verspricht. So hofft man, soziale Anerkennung und Reputation zu gewinnen, indem man sich als auf der richtigen Seite stehend darstellt, und politische Resonanz zu erzeugen, indem man seine Position mit moralischer Emphase oder Empörung vertritt. Diese Tendenz zur moralischen Selbstinszenierung wird – so Hübls These – in der digitalen Welt durch die Sozialen Medien enorm gesteigert.
Ausgangspunkt seiner Analyse ist der Moralinstinkt, ein genetisches Erbe der biologischen Evolution des Menschen. Wenn weibliche Mitglieder der Spezies ihre Partnerwahl an Verlässlichkeit orientieren und Gruppen Kooperation belohnen, verbessern sich die Reproduktionschancen derjenigen, die das entsprechende moralische Verhalten aufweisen. Evolutionär selektiert und stabilisiert wird das Verhalten, weil und sofern es strategisch nützlich ist: Es steigert die Fitness. Dieser evolutionäre Hintergrund mag erklären, warum wir der Moral eine so große Bedeutung beimessen. Und er erklärt inhaltliche Merkmale der Alltagsmoral. Das sind einerseits ein basaler Sinn für Fairness, eine grundsätzliche Kooperationsbereitschaft sowie eine besondere Wachsamkeit gegenüber möglichen Täuschungsversuchen, aber andrerseits auch etliche der Vernunftmoral zuwider laufende Aspekte: Wir geben rasche, oft parteiische Urteile ab, derer wir uns sehr sicher sind, obwohl wir sie nicht angemessen begründen können. Wir neigen zu moralischer Selbstüberhöhung: Anderen als besonders ehrenwert und damit begehrenswert zu erscheinen, gelingt überzeugender, wenn wir selbst an die eigene Überlegenheit glauben. Auch die motivationale Antriebsstruktur prägt der Moralinstinkt: „Rasch und automatisch“ löst eigenes oder fremdes Fehlverhalten die emotionalen Reaktionen Scham und Schuld, Empörung und Abscheu aus.
In der Kulturgeschichte, die den Moralinstinkt überformt, spielen moralischer Reputationsgewinn und strategische Moralinszenierung zunächst keine entscheidende Rolle. Im Kampf um soziale Anerkennung stehen andere Werte im Vordergrund. Den amerikanischen Soziologen Campbell und Manning (2018) folgend ordnet Hübl vorherrschende moralische Einstellungen drei Moralkulturen zu: der Autoritäts- oder Ehrenkultur, der Autonomie- oder Würdekultur und der Opfer- oder Fürsorgekultur. Die eher männlich geprägte, kollektivistische Autoritätskultur setzt auf Stärke, Dominanz, Schutz der Ehre, Anerkennung in der Gruppe. Insbesondere in den WEIRD (Western, Educated, Industrialized, Rich, Democratic) Ländern setzte sich nach dem 2. Weltkrieg die eher weiblich geprägte, individualistisch orientierte Autonomiekultur durch: Zentral sind Leistung und Erfolg, Freiheit und Selbstbestimmung. Gleichzeitig wird der gesellschaftliche und moralische Fortschritt, der sich weltweit vollzogen hat, nicht wahrgenommen. Hunger und Kriege nahmen ab, Menschenrechte und Demokratie verbreiteten sich. Mehrheitlich aber schätzen die Bewohner der WEIRD Länder, insbesondere die Intellektuellen, die Weltlage deutlich schlechter ein als sie ist und beklagen moralischen Verfall. Einer der Gründe für diese Fehleinschätzung sind erhöhte Erwartungen. Zur Illustration zitiert Hübl den Kommentar eines schwarzen Moderators bei der Verleihung des Oscars für die beste Kamera 2015: „Mindestens 71-mal gab es keine schwarzen Kandidaten. Schwarze haben nicht protestiert. Warum? Wir waren zu beschäftigt, gelyncht und vergewaltigt zu werden, um uns darüber zu sorgen, wer den Oscar für die beste Kamera erhalten hat“. Es sind wohl diese gesteigerten moralischen Ansprüche, die innerhalb der Autonomiekultur bei einer kleinen Gruppe, zumeist Angehörigen der kreativen Klasse, zur Herausbildung einer Opferkultur führten. In ihr werden moralischer Status und moralische Distinktion bedeutsam: Ansehen genießt, wer als unterdrückt, benachteiligt oder leidend gilt, oder auch wer sich für solche Opfer einsetzt. Dabei richtet sich eine hypersensible, laut Hübl auch als ‚woke‘ bezeichnete, Aufmerksamkeit auf potentielle Ehrverletzungen, die sich etwa im Vorwurf kultureller Aneignung oder in Trigger-Warnungen manifestiert. Im Zentrum stehen Gruppenzugehörigkeit und Empfindsamkeit. Leistung, die in der Autonomiekultur Ungleichheit zu erklären und zu rechtfertigen erlaubt, wird unverdienten Privilegien zugeschrieben. Normbrecher werden an den Pranger gestellt: Im digitalen Dorf sind dies die Medien.
Hübl nimmt an, dass in dieser Opferkultur die Berufung auf Moral die Leerstelle füllt, die in den WEIRD Ländern entsteht: Der rasche soziale Wandel reduziert die Bedeutung tradierter Rollenzuschreibungen; der Wohlstand lässt Sinnstiftung durch Überlebenssicherung, berufliche Aufgaben, religiöse Bindungen fragwürdig werden. So wird Moral zentral für die eigene Identitätsbildung und die Darstellung des eigenen Gut-Seins zur Strategie für Reputationsgewinn. Man sucht Aufmerksamkeit und soziale Anerkennung, indem man sich als Mitglied einer progressiven moralischen Elite oder einer vermeintlich unterdrückten Minderheit präsentiert. Dabei bildet die digitale Welt einen entgegenkommenden kulturellen Kontext: Sie befördert den Hang zur moralischen Selbstdarstellung, sofern sie ermöglicht, billige, weil schwer überprüfbare und kaum begründete, Signale zu senden. So lassen sich Charakter, Gruppenloyalität und sensibles Mitempfinden mit dem Leid anderer öffentlich präsentieren. Und so lässt sich ‚moralisches Kapital‘ erzeugen. Das bietet nicht nur soziale Anerkennung, sondern auch ökonomische Vorteile. Und diese verstehen auch Unternehmen zu nutzen: Green- und Pinkwashing zahlen sich aus.
Das in den Sozialen Medien ausgetragene Statusspiel führt zu Pathologien der Kommunikation: Die kontextfrei gesendeten schriftlichen Signale erzwingen eindeutige Stellungnahmen – komplexe Mittelpositionen sind zu anfällig für Missverständnisse. Urteile werden harsch und durch immer extremere Äußerungen überboten. Das Netz senkt Hemmschwellen für egoistische, aggressive Nutzer, die sich als besonders moralisch inszenieren. Solche Selbstdarsteller versuchen, anderen die eigene Meinung aufzuzwingen, lancieren Kampagnen, in denen es zu Empörungswettbewerben kommt, und schüchtern durch Shitstorms ein. So verkommt auch die öffentliche Diskussion um Werte und Normen zum Moralspektakel. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, wie rasant sich Schlagworte der sozialen Gerechtigkeit, z.B. toxische Männlichkeit, Privileg, Diversität, in den letzten 10 Jahren in Wissenschaft, Kultur, den Medien und im Alltag verbreitet haben. Diese vagen und zudem inhaltlich erweiterbaren Begriffe erlauben, Weltoffenheit zu signalisieren, auch ohne dass ihre Wirksamkeit belegt wäre. Sie lassen sich gut in Gruppenkonflikten und im besonders in der kreativen Klasse heftig tobenden Konkurrenzkampf einsetzen. In diesem Statusspiel gibt es besonders wirksame Taktiken. Man kann sich auf unwiderlegbare Gefühle berufen: Entscheidend ist, ob sich eine Person diskriminiert fühlt, nicht ob sie objektiv benachteiligt wurde. Man kann, wie in der Standpunktepistemologie, den Anspruch auf speziellen Wissenszugang für betroffene Gruppen erheben: So lässt sich etwa einer weißen Übersetzerin die Fähigkeit absprechen, das Gedicht einer schwarzen Autorin zu übertragen. Man kann, wie etwa in der Theorie der Intersektionalität, immer differenziertere Opferhierarchien entwickeln: So etwa lässt sich die These ‚Jede Frau ist benachteiligt‘ schrittweise steigern. Stärker benachteiligt sind schwarze Frauen, noch stärker, wenn sie aus der Unterschicht kommen und erst recht wenn sie lesbisch sind. Dieser Diskussionsstil macht es Polarisierungsunternehmern leicht, Reizthemen aufzugreifen, um sich als besonders links oder rechts darzustellen. Und das treibt die Spaltung der Gesellschaft voran.
Dagegen möchte Hübl vorgehen. Er wählt einen anderen Ansatz als Luhmann (1990), der vor Moral überhaupt, allerdings vor einer seinerzeit eher konventionalistisch verstandenen Moral, warnte, weil sie unausweichlich zu Konflikten führe. Hübl setzt auf mehr Moral, allerdings auf die universalistische Ethik der Menschenrechte und deren angemessene Umsetzung. So begründet er Empfehlungen, wie den Pathologien des Moralspektakels zu entkommen sei. Denn zwar ist Moral durch den Moralinstinkt geprägt und die Kultur geformt. Aber die Vernunft kann sie immer wieder neu kalibrieren. Und das tut not, da das identitätspolitische Stammesdenken von Autoritäts- und Opferkultur mit der Digitalisierung an Boden gewonnen hat. So fordert er, Gemeinsamkeiten und nicht Unterschiede zu betonen. Schließlich erzielten emanzipatorische Bewegungen, etwa die Bürgerrechtsbewegung, Erfolge, indem die Akteure als gleiche Menschen gleiche Rechte einklagten und so die Mehrheit für ihr Anliegen gewinnen konnten. Er warnt vor moralischem Relativismus. Menschenrechte etwa sind nicht westliche Werte, weil sie im Westen entwickelt wurden. Und sie bleiben gültig, auch wenn der Westen selbst oft an seinen eigenen Ansprüchen scheitert. Er plädiert für eine kritische Überprüfung angestrebter Maßnahmen. Dabei geht es u.a. um Fragen nach Nebenfolgen, nach der Angemessenheit der Mittel, der Akzeptanz von Zielen und Mitteln in der Öffentlichkeit. Auch gilt es, Symbolpolitik zu entlarven und Trittbrettfahrer durch überprüfbare Zertifikate (etwa für die Energiebilanz von Unternehmen) auszuschalten. Und statt wie im Identitätsmodell Benachteiligungen allein Gruppenmerkmalen (z.B. Hautfarbe, Geschlecht) zuzuschreiben, sind evidenzbasiert alle, auch genetisch beeinflusste, Faktoren (z.B. kognitive Fähigkeiten) einzubeziehen. Vor allem habe das autoritäre Kommunikationsverhalten der Einschüchterungskultur intellektueller und moralischer Bescheidenheit Platz zu machen: Die Lösung komplexer moralischer Abwägungsfragen erfordert Kritik, offenen Austausch von Argumenten, Unparteilichkeit und Objektivität.
Moralspektakel – so das Resümee – schaden der Politik, der Wissenschaft, dem Kulturbetrieb, letztlich der Gesellschaft insgesamt: Bürger ziehen sich aus dem demokratischen Diskurs zurück und verlieren Vertrauen in die Institutionen. Zwar ist Vernunftmoral anstrengend: Sie erfordert empirische Daten und gute Argumente. Ihre politische Umsetzung ist undankbar: Sie erfordert Engagement und Kompromissbereitschaft. Und sie verschafft wenig Anerkennung. Aber langfristig zahlt sie sich für alle Menschen aus.
Das Buch besticht in mehrfacher Hinsicht: Der in der Einleitung knapp skizzierte Argumentationsgang ist stringent. Die klare, auch bilderreiche Sprache macht den Text gut verständlich. Die originelle These, in der digitalen Welt werde Moral zur idealen Waffe im Statuskampf, überzeugt. Und die Integration von philosophischer Reflexion und sozialwissenschaftlichen Analysen ist gelungen. Vor allem belegt Hübl die Tatsachenbehauptungen: Er zieht eine reiche Vielfalt von Daten heran – exemplarische Vorkommnisse, Befragungen, Experimente, vorliegende Statistiken, Analysen von Internetpostings.
Dennoch seien einige Vorbehalte kurz angedeutet. Sie beziehen sich nicht auf die Beweisführung seiner zentralen These. Argumentativ überzeugend, empirisch gut belegt und mitreißend formuliert zeigt Hübl prekäre Auswirkungen überzogener Moralisierungen in überhitzten und sich aufschaukelnden Debatten. Und er weist nach, dass diese nicht zuletzt der billigen Verfügbarkeit der Sozialen Medien geschuldet sind. Die Vorbehalte beziehen sich in erster Linie auf die theoretische Ableitung seiner These und einige Übergeneralisierungen, die sich vor allem in den einleitenden Kapiteln finden.
Aus dem evolutionären Ursprung von Moral zieht Hübl weitreichende Folgerungen, die sowohl Motive wie auch Inhalte unserer Alltagsmoral betreffen. So behauptet er, Normbefolgung sei motiviert durch den „Wunsch nach Anerkennung zusammen mit der Angst vor Sanktionen“, speziell vor bei Verstößen „schnell und automatisch“ ausgelösten „Scham- und Schuldgefühlen“. Dabei ignoriert er individuelle Differenzen in der Intensität sowie soziohistorische Veränderungen in der Struktur moralischer Motivation. Menschen, denen Moral persönlich sehr wichtig ist, tun das Rechte um seiner selbst willen. So sind einige selbst unter hohen persönlichen Kosten bereit, für ihre eigenen Überzeugungen einzutreten (Colby und Damon 2010) oder unter Lebensgefahr andere Menschen zu retten, etwa Juden im Dritten Reich (Benz 2003). Sie verstehen ihr Handeln als reine Selbstverständlichkeit. Und heutige Generationen reagieren auf Verfehlungen eher mit Reue und dem Streben nach Wiedergutmachung als mit Schuldgefühlen und Angst vor Beschämung. (Nunner-Winkler 2003). Der Grund dürften Säkularisierungsprozesse und Sozialisationsstile sein, die auf Aushandlung und Regelbegründung setzen.
Auch spielt die Vernunft in unserer Alltagsmoral eine größere Rolle, als Hübl ihr zugesteht. „Da wir […] überall zur mentalen Faulheit neigen“ folgten wir auch bei moralischen Urteilen primär unseren dem Moralinstinkt entspringenden Intuitionen. So tragen wir unfaire, parteiische, nicht kontextsensitive moralische ‚Bauchurteile‘ mit großer Sicherheit vor. Aber schon im Schulalter erlauben Kinder spontan und mühelos Ausnahmen von universell als verbindlich verstandenen Normen, die sie am Kriterium der Schadensminimierung orientieren. Und Kinder können als verlässliche Zeugen gelebter Moralvorstellungen gelten (hinter die natürlich insbesondere Personen mit niedriger moralischer Motivation im Handeln durchaus zurückfallen können). Schließlich lesen sie ihr Wissen an ihrem gesellschaftlichen Umfeld ab: am elterlichen Erziehungsverhalten, an Vorbildern, vor allem aber auch am moralischen Sprachspiel. Genau dieses Moment übersieht Hübl, wenn er die Vorstellung „man könne die Welt verbessern, indem man die Art und Weise verändert, in der man über sie spricht“, als reines Wunschdenken abtut. Kinder lesen ihr moralisches Wissen nicht zuletzt an ‚dichten‘, also wertgeladenen, Begriffen ab. So etwa verneinen sie die Frage, ob man die Süßigkeiten eines anderen nehmen darf, klar und deutlich: „Das ist Diebstahl!“, „Der ist ein Dieb!“ Mit der Veränderung von Sprache erwerben sie ein verändertes moralisches Wissen.
Hübls evolutionstheoretischer Einbettung ist wohl auch seine Zuordnung inhaltlicher Wertorientierungen zu den genetisch verankerten Persönlichkeitsdispositionen geschuldet, die im Standardmodell der Persönlichkeitspsychologie durch die Big-Five-Skalen erhoben werden. Diese weisen zwar Frauen kulturübergreifend als offener, extrovertierter und verträglicher aus. Daraus folgt aber nicht Hübls pauschalisierende Behauptung, dass Frauen eher progressive politische Präferenzen zeigten. Die repräsentative Wählerstatistik Deutschlands zeichnet ein komplexeres Bild: 1919 wie auch 1953 wählten Frauen deutlich konservativer als Männer. Erst im Laufe der 1970er Jahre glich sich das Wahlverhalten an. 2017 wurde die AfD häufiger von Männern gewählt. Allerdings fällt der Geschlechtsunterschied bei der Wahl rechtspopulistischer Parteien in Ländern, in denen diese bereits länger etabliert sind, deutlich geringer aus. Diese Befunde sprechen dafür, dass differentielle Faktoren wie Bildungsgrad, religiöse Einbindung oder auch Konformitätsneigung inhaltliche Wertbindungen stärker bestimmen als die Geschlechtszugehörigkeit.
Eine weitere Übergeneralisierung findet sich in Hübls Beschreibung der digitalen Welt. Keineswegs sind „wir alle zu Sendern geworden, und betreiben im Netz ständig Reputationsmanagement“. Laut Statista haben 2022 nur 18% der deutschen Nutzer Kommentare in Foren geschrieben.
Diese Einwände widerlegen Hübls zentrale These nicht. Zwar geraten mit seiner Fokussierung auf Überspitzungen des Moralspektakels die berechtigten Anliegen, die etliche Moralisierungen ursprünglich motivierten, sowie auch eventuell erzielte positive Effekte, aus dem Blick. Aber seine konkrete Beweisführung in den Detailanalysen ist durch die monierten Übergeneralisierungen nicht verzerrt. So differenziert er explizit z.B. zwischen amoralischen Internetnutzern und Aktivisten, die ihr Anliegen aus genuin moralischen Motiven verfolgen. Auch betont er, dass selbstdarstellendes Anerkennungsstreben kein Moralspektakel ist, wenn die Handlung selbst (z.B. Spenden, ehrenamtliche Tätigkeit) dem Gemeinwohl dient. Insgesamt bietet das Buch eine nicht nur spannende und vergnügliche, sondern vor allem auch aufklärende Lektüre. Man kann nur wünschen, dass sie es vermag, wie vom Autor erhofft, gesellschaftlichen Spaltungstendenzen entgegenzuwirken und die Stabilisierung der Demokratie zu befördern.
Literaturangaben
Wolfgang Benz (Hrsg): Überleben im Dritten Reich. Juden im Untergrund und ihre Helfer. München: Beck 2003
Bradley Campbell&Jason Manning: The Rise of Victimhood Culture: Microaggressions, Safe Spaces, and the New Culture Wars. Palgrav Macmillan 2018
Ann Colby&William Damon: Some do care. Contemporary Lives of Moral Commitment. Simon and Schuster 2010
Niklas Luhmann: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990
Gertrud Nunner-Winkler: Ethik der freiwilligen Selbstbindung. – Replik auf Kritiker. In: Erwägen Wissen Ethik (EWE) (14,4), 579-589, 655-672 2003
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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