Wie lange und wie laut kann Musik schweigen?
Mario Varga Llosas Erzähler macht sich in „Die große Versuchung” auf die Suche nach dem kulturerschließenden peruanischen Vals
Von Stephan Wolting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie große Versuchung soll nach eigenen Angaben das letzte Werk des peruanischen Nobelpreisträgers und Autors Mario Varga Llosa sein. Der Autor gilt als eine der schillerndsten Persönlichkeiten innerhalb der internationalen literarischen Welt, der sich politisch von einer eher links-liberalen Haltung bis zur Unterstützung rechter Politiker, wie jener des argentinischen Präsidenten Javier Milei, entwickelt hat. Unvergessen ist seine Kandidatur 1990 als Herausforderer bei den peruanischen Präsidentschaftswahlen gegen den späteren, am 11. September 2024 verstorbenen und wegen des Verbrechens der Korruption und gegen die Menschlichkeit 15 Jahre im Gefängnis gesessenen Ex-Präsidenten Alberto Fujimori.
Außerdem war vor einigen Jahren Llosas Privatleben ins Gerede gekommen, als er seine Ehefrau Patricia wegen der spanisch-philippinischen Society-Lady und Journalistin der spanischen Boulevardzeitung Hola Isabel Preysler verließ, um dann nach acht Jahren reumütig zu seiner Gattin zurückzukehren, und ihr das hier zugrunde liegende Werk zu widmen. Bei der Betrachtung des Werks soll das allerdings eine marginale Rolle spielen; stattdessen wird die Frage virulent, inwieweit dieses Werk als so etwas wie die Quintessenz des Werks Llosas anzusehen ist.
Was den Plot betrifft, so geht um die Geschichte eines an seiner Universität entlassenen Musikologen und Musikenthusiasten baskischer Herkunft Toño Azpilcueta auf der Suche nach dem ihm zunächst unbekannten Gitarrengenie der peruanischen Folklore Lalo Molfino, den er auf Einladung des Schriftstellers Jose Duran Flores ein einziges Mal live erlebt, und von ihm derart begeistert ist, dass er sich nach dessen kurz danach erfolgten Tod auf die Recherche macht: „Aber es war nicht nur die Fingerfertigkeit, mit der dieser Gitarrist Töne hervorbrachte, die neu zu sein schienen. Nein, es war mehr. Es war Weisheit, Konzentration, meisterliche Beherrschung, ein Wunder. Und es war nicht nur die tiefe Stille, es war auch die Reaktion des Publikums.“ Mit der Geschichte dieses unbekannt gebliebenen wie genialen Gitarristen wird jene des peruanischen Walzers, des Vals criolo, parallelisiert, womit sich Azpilcueta viele Jahre beschäftigt hat, insbesondere mit der Frage, was diese Musikrichtung für die peruanische Kultur bedeutet und über diese im Sinne eines Alleinstellungsmerkmals auszusagen weiß.
Für seine Recherchen unternimmt der Protagonist einige Inlandsreisen, vor allem in den Geburtsort des Musikers Chiclayo, und befragt ihm nahegestandene Personen zu dessen Lebensgeschichte, allerdings zunächst ohne eigentliche Informationen darüber zu erhalten. Dieser Such- und Recherchvorgang wird zum eigentlichen Thema des Buches. Damit verbunden sind sehr viele Informationen über diese Form der Musik, sodass man in Bezug auf das Werk fast von Anklängen an eine Enzyklopädie zu sprechen geneigt ist. Seine Studien und Forschungen führen die Leserschaft weit in die Tiefen dieser Musik, vor allem in jene erhabene Stille, das beredte Schweigen dieser Musik, was immer wieder von neuem Erwähnung findet. Vielleicht kommt das Werk manchmal etwas zu enzyklopädisch im Sinne auch eines Namedroppings daher, aber viele Namen sind vor allem in Südamerika, und beispielweise weniger in Europa bekannt.
Was den Autor ähnlich wie in Der Geschichtenerzähler/El hablador umtreibt, ist auch hier wieder die Geschichte des Einflusses eines Intellektuellen auf die Geschichte seines Landes oder seiner Umgebung. Dabei wird der Bezug zu den einfachen Leuten hergestellt, die diese Art von Musik in den Hinterhöfen von Lima erfanden, diesen Tanz, den der Autor zwar zu dokumentieren, aber selbst nicht zu tanzen versteht. Die Gemeinsamkeit zu Der Geschichtenerzähler zeigt sich auch daran, dass hier eine akademische Karriere auf abrupte Weise beendet wird, aber anders als in El Hablador, ohne dass der Protagonist völlig verschwindet.
Toño Azpilcueta wird allerdings davon abgehalten, eine Promotion über das Thema zu schreiben, obwohl er einige Jahre an der Universität San Marcos in Lima als Schüler des berühmten Professors Morones gelehrt hat, dessen Institut aber mit seiner Emeritierung geschlossen wird. Trotzdem beschäftigt sich Toño weiter mit dem Thema und beschließt ein Buch über den Vals zu schreiben, was er dann auch in Angriff nimmt und mit dem er großen Erfolg in der Öffentlichkeit hat. Schließlich kann er die Stelle an der Universität wieder einnehmen. Mehr soll in dieser Richtung aber nicht verraten werden, nur soviel: Die Geschichte ist damit noch nicht zu Ende.
Der Autor braucht nur einige wenige Striche, um die Personen und Situationen zu skizzieren, vor allem die Situation der „Musikanten“, der Bands, die vor allen Dingen zur Anfang des 19. Jahrhunderts diese Art von Musik als natürliche Heimat des Vals in den Hinterhofkolonien von Lima, den callejones, spielten: „Dort in den Callejones kamen die ersten großen Gitarristen und Cajónspieler Perus auf die Welt, ebenso die besten Tänzer der Valses, Huanitos, Marineras und Resbalosas.“
Die Bedeutung der Musik wird nicht zuletzt an deren klassenübergreifender Funktion deutlich, woran verschiedene Schichten allerdings unterschiedlichen Anteil haben. An manchen Stellen ist kritisiert worden, dass die wahren sozialen und ökonomischen Verhältnisse der unteren Schichten in Peru im Roman nicht wirklich berücksichtigt werden. Zudem wird der belehrende Impetus des Autors in seiner „pädagogisch steril“ gewordenen Lesart kritisiert. Außerdem wird in einigen Kritiken der Titel der deutschen Übersetzung Die große Versuchung negativ beurteilt, die relativ kurz nach dem spanischen Original erschien. Und in der Tat scheint dieser Titel irreführend: Bis zum Ende der Lektüre des Werks fragt sich der oder die Leser*in, worin diese große Versuchung bestehen sollte. Auf jeden Fall legt die Assoziation mit einer Form von Beziehungsgeschichte etwas nahe, was in diesem Fall überhaupt nicht gemeint und, wenn überhaupt, allenfalls einen Nebenstrang ausmacht. Der spanische Titel lautet Le dedico mi silencio, also in etwa: „Ihr widme ich mein Schweigen.“ Diese Wendung wird im Werk an einigen Stellen suadaartig wiederholt, etwa im Gespräch des Protagonisten mit einer guten Freundin, der bekannten Vals-Sängerin Cecilia Barraza, als diese ihm von Lalo Molfino, dem eigentlichen Protagonisten, in dessen Abwesenheit erzählt:
„Er war ein Genie, keine Frage“, sagte sie. Aber auch eingebildet, eitel, ein überaus schwieriger Mensch. (…). Erst am letzten Tag, als er kam, um sich zu verabschieden, sah er ein wenig traurig aus. „Ihnen widme ich mein Schweigen, hat er gesagt. Er ist dann fast davongerannt. Ich weiß nicht, was er mir damit sagen wollte: „Ihnen widme ich mein Schweigen.“
Sie fragt dabei Toño, ob er das verstehe, woraufhin ihr dieser nur mit der Beschreibung von dessen Gitarrenspiel antwortet und dessen Erzeugung einer andächtigen Stille erwähnt: „‚Als ich ihn an der Gitarre gehört habe, in Bajo el Puente, da dachte ich, es wäre eine Stille eingekehrt, wie es sie manchmal beim Stierkampf gibt‘, sagte Toño.“
Der Erzähler stellt die schon angedeutete „These“ seines Protagonisten voran, wonach der Vals das entscheidende Phänomen der peruanischen Kultur, das Geschenk an die Welt ist, eine These, die von dessen Kolleginnen und Kollegen durchaus kontrovers diskutiert wird:
Die Vals-Stücke traten an die Stelle aller anderen Musik, die um die Kunst der Menschen buhlte, und etablierten sich auf natürliche Weise, ohne dass irgendwer es beschlossen oder befördert hätte, es war allein die Begeisterung der großen Mehrheit unserer Landsleute, und darauf konnten sie stolz sein.
Alipyuelas Liebe zu seiner Heimat gilt aber nicht uneingeschränkt für ihn und bleibt zudem nicht blind, was sich an den real wie im Traum immer wieder auftauchenden Ratten deutlich macht, die zu einer Phobie wie Obsession des Erzählers werden, weshalb er sich in psychoanalytische Therapie begibt, die er aber schließlich fluchtartig wieder verlässt.
Insgesamt kann man von einer gelungenen Idee und Anlage des Werks sprechen, der man Nachahmer*innen wünschen würde, etwa in Hinblick auf den portugiesischen Fado oder den argentinischen Tango, der im Werk an manchen Stellen als Gegensatz herhalten muss. Insofern ist dem Autor ein interessantes Experiment durchaus in Form eines unterhaltsamen Plots gelungen, der man vielleicht ein etwas spektakuläreres Ende gewünscht hätte. Insgesamt tut das aber dem guten Gesamteindruck keinen Abbruch, weshalb man dem Werk eine große Leserschaft wünschen möchte.
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