Zwischen Neubeginn und Autonomie
Manuel Förderers ambitionierter Versuch einer Neubestimmung der Geschichte der westdeutschen Literatur von 1945–1949
Von Ulrich Klappstein
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Heidelberger Universitätsverlag WINTER hat Manuel Förderer eine umfangreiche Studie vorgelegt, die für eine Wiederbeschäftigung mit einem – vermeintlich als „abgehandelt verstandenen“ – besonderen Abschnitt der deutschen Literaturgeschichte neue Impulse geben möchte. Es geht dabei um eine Neubewertung der westdeutschen Literatur, die bis zum Jahr 1949 unter dem Signum opponierender Modellierungen des Vergangenen und des Zukünftigen stand. In seinem nun als Buch veröffentlichten Dissertationsprojekt geht es darum, Erzähltexte und publizistische Arbeiten zur Zeit dieses „Interregnums“ vorzustellen und sie einer Relektüre zu unterziehen. Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern dieser neue Blick auf völlig disparate Texte einer Zwischenphase der Nachkriegsliteratur überhaupt lohnenswert ist. Weiterhin, ob sich der Begriff »Interregnum« als geeignet erweist (vor allem auch deshalb, weil unklar bleibt, welches „Regnum“ nach Ansicht des Verfassers darauf folgte).
Texte von Autorinnen und Autoren, die nach Ansicht Förderers ein breit angelegtes „literaturarchäologisches Problemfeld“ abdecken. Förderer geht von damals entwickelten „Semantiken und Figurationen“ aus, um daran ein postuliertes Interregnum zu diskutieren und auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene zu „verhandeln“. Sein Erkenntnisinteresse zielt auf die Frage, ob die untersuchten Texte auch als „Applikationsvorlagen“ (Jürgen Link) fungieren konnten, um den damals Lesenden „demokratisch gerahmte Handlungsdispositive“ vorzuführen. Letztlich geht es also um die literaturpolitischen Dimensionen von Texten im Rahmen eines ursprünglich breit angelegten reeducation-Projekts der alliierten Besatzungsmächte und seine Wirksamkeit für die heutige Zeit.
Das Interregnum war laut Förderer von der Parallelität einer Loslösung aus „alten Bindungen“ und einer Offenheit „hinsichtlich des Kommenden“ geprägt und trug den Charakter einer Schwellenzeit im Zeichen einer „Zusammenbruchsgesellschaft“ (Christoph Kleßmann) und „Grauzonenökonomie“ (Harald Jähner). Für die zeitgenössische Leserschaft stellte das durchaus eine Zäsur dar, die nach einer Neuorientierung verlangte. Die literaturwissenschaftliche Erforschung dieser Phase ist, so die Prämisse des Autors, noch nicht abgeschlossen, ja er beobachtet sogar eine Art „Renaissance der Beschäftigung mit der Nachkriegsliteratur“, um „Räume des gesellschaftlich Sagbaren“ erneut zu vermessen.
Im Anschluss an eine aspektreiche Einleitung und Abwägung verschiedener aktueller Forschungsbeiträge geht es um vorwiegend männliche Autoren, die ihren Namen in der Literaturgeschichte bis heute, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, behaupten konnten. Allerdings widmet sich die Studie auch Autorinnen und Autoren sog. „zweiten Ranges“, die gemeinhin unterhalb der Schwelle literaturwissenschaftlicher Wahrnehmung standen.
In vier großen Kapiteln werden ausgewählte „Praktiken“ und Stimmen „kommender Ordnungen“ vorgestellt – Leonard Franks Die Jünger Jesu, Hans Werner Richters Die Geschlagenen sowie Rudolf Krämer-Badonis In der großen Drift, allesamt Werke des Jahres 1949. Anschließend gruppiert der Verfasser „Figuren des Dazwischen“ um Heinz Reins Roman Finale Berlin von 1947 – das spät wiederentdeckte Erfolgsbuch eines „Deserteurs“ zwischen Dokumentarismus, Ideologiekritik und Luftkrieg –, und um zwei weitere Beispiele heute (zu Recht?) fast vergessener Werke von Autoren, die um die Figur des „Werwolfs“ kreisen: Walter Kolbenhoffs Roman Von unserem Fleisch und Blut (1947) und Dieter Meichsners „Wiedergeburt in den Kellern“, den Roman Versucht’s noch mal mit uns (1948).
Danach untersucht Förderer die „Verfahren des Dazwischen“ am Beispiel der sich zeigenden politischen Brüche, aber auch der ästhetischen Kontinuitäten, die sich nach dem Epochenbruch von 1933 in Texten ganz unterschiedlicher Autoren und Autorinnen wie Hermann Kasack, Ernst Kreuder, Elisabeth Langgässer, Günter Eich oder Horst Lange spiegelten. Im Vordergrund stehen allerdings zwei ausführliche Analysen: zum einen von Georg Hensels Nachtfahrt (1949), einem Roman, der für den Rowohlt-Verlag von „ökonomischer Erfolglosigkeit“ geprägt war, nicht zuletzt, weil er sich surrealistischer Verfremdungsmethoden bediente. Als zweites Beispiel wird die „pfälzische Sappho“ Martha Saalfeld mit ihrem Roman Der Wald (1949) vorgestellt, eine Autorin, die zwar mit ihrer postum publizierten Naturlyrik zunächst keine Erfolge vorweisen konnte, aber mit diesem Roman ein Abbild der Lage kleinbürgerlicher Schichten in der Nachkriegszeit gegeben.B esonders diesen sei das Gefühl für „ökonomische Sekurität“ verloren gegangen – für Förderer ein „Schwanengesang vom Verlust des Geldes, Glanz und Niedergang“ einer Familie und mit den Worten Elisabeth Langgässers ein „dämonischer Irrgarten“.
Abschließend widmet sich der Verfasser ausführlich der Rezeptionsgeschichte „eines schwierigen Autors“, an dem sich „seit jeher“ die Geister schieden: Gerd Gaisers Erzählungsband Zwischenland von 1949, der in den Feuilletons der Zeit zu „größeren Positionierungskämpfen innerhalb des literarischen Feldes“ Anlass gegeben hat, weil dessen „letztlich ahistorisch-zyklisches“ Erzählmodell schon damals als „antimodern“ eingestuft wurde. Geiser ist heute aus dem Sortiment des Buchhandels allerdings so gut wie verschwunden.
Bei aller Ausführlichkeit der Einzelanalysen, die um die „Denkfigur des Dazwischen“ angesiedelt sind, stellt sich nach der Lektüre dieser mehr als 600 Seiten die Frage, ob die angepeilten Schwerpunkte der Darstellung tatsächlich so repräsentativ sind, wie vom Verfasser behauptet. Vielmehr scheint das Bemühen um Vollständigkeit in vielen Passagen überdehnt (vor allem in den länglichen Anfangskapiteln), und man fragt sich, ob es sinnvoll ist, an teils recht entlegenen Beispielen aufzuzeigen, „in welchen Bildern und Motiven, Räumen und Zeiten, Handlungs- und Erzählschemata“ sich Denkbewegungen artikulierten – und ob diese jenseits einer „literaturarchäologischen“ Tiefenbohrung Bestand haben können. Förderer selbst muss in seinem Fazit konzedieren, dass viele der vorgestellten Beispiele schon in den Zeiten eines „Interregnums“ eigentlich immer nur „einen deutlich kleineren Kreis von Lesenden angesprochen haben“. Zeittypisch für einen Interregnumsdiskurs sind die Texte fraglos, aber ob von ihnen tatsächlich der vom Autor unterstellte „Appellcharakter“ ausging, darf bezweifelt werden.
Zu einem weiteren Nachdenken über die Funktion der Nachkriegsliteratur, vor allem aber darüber, „welche der alten (Sprach-)Bausteine weiterhin Verwendung finden können und welche als Ballast abgetan werden sollten“ – so der Schlusssatz der Studie – regt die Lektüre aber allemal an.
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