Vermeintlich Randständiges von hoher Bedeutung
Von der Forschung weniger beachtete Zeitschriften des Expressionismus im Fokus
Von Günter Helmes
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBei der zur Rede stehenden Publikation handelt es sich um Heft 19 der seit Frühjahr 2015 halbjährlich erscheinenden, bislang Motiven wie „Wahnsinn“, „Rausch“ und „Riechen und Gerüche“ oder Themen wie „Künstlerkreise“, „Expressionistinnen“, „Politik“ oder „Provinz“ nachgehenden Zeitschrift Expressionismus. Diese, deren fünftes Heft über die mit Blick auf das aktuelle Heft besonders interessierenden Zeitschriften Der Sturm und Die Aktion handelt, wird zusammen mit Johannes S. Lorenzen von der in Stuttgart lehrenden, u.a. mit einer Monographie zu Johannes R. Becher hervorgetretenen Kristin Eichhorn herausgegeben. Einzelne Hefte haben auch Gast-Mitherausgeber mit Expertenstatus wie bspw. Frank Krause. Für das vorliegende Heft zeichnet Eichhorn allein verantwortlich.
Heft 19 ist aus einem im November 2022 abgehaltenen „Auftaktworkshop“ des am „Stuttgart Research Centre for Text Studies“ angesiedelten, mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach kooperierenden Projekt „Die kleinen Zeitschriften des Expressionismus“ hervorgegangen. Diesem Projekt ist daran gelegen, „die Zeitschriften aus interdisziplinärer Perspektive zu beleuchten und die im engeren Sinne textbasierten Zugänge um kunstwissenschaftliche und kulturgeschichtliche zu erweitern.“
Neben einem „Editorial“, zwei Rezensionen zu Pionierinnen der Moderne (hrsg. von Dorothy Price u.a.) und Gabriele Münter. Retrospektive (hrsg. von Ivan Ristić u.a.) einerseits und Avantgarden in Zentraleuropa. Andere Räume, andere Bühnen (hrsg. von Wolfgang Müller-Funk u.a.) andererseits, einem Abbildungsverzeichnis sowie einem „Call for Papers: Else Lasker-Schüler als Expressionistin“ (= Expressionismus, H. 21, 2025) enthält das Heft zentral sechs allesamt lesenswerte, gleichwohl qualitativ differierende Beiträge. Je zwei davon sind den Sektionen „Kleine Zeitschriften zwischen Kunst und Politik“, „Definitorische Grenzfälle“ und „Diskurszusammenhänge kleiner Zeitschriften“ zugeordnet.
Ihr „Editorial“, dem es mit Blick auf die zentralen Lemmata „klein“, „Zeitschrift“ und „Expressionismus“ um Definitorisches und im Lichte aktueller, übergeordneter Zeitschriftenforschung um jene Kriterien geht, „nach welchen sich die Aufnahmen in einen zu untersuchenden Korpus richten sollten“, eröffnet die Herausgeberin mit zwei zutreffenden Bemerkungen: Der Expressionismus habe „eine nahezu unüberschaubare Zahl an Periodika hervorgebracht, in denen sich politische und ästhetische Debatten und Manifeste ebenso finden wie bildkünstlerische und literarische Werke.“ Viele dieser oft kurzlebigen Periodika hätten „einen bedeutenden Beitrag zur Verbreitung des Expressionismus jenseits der Zentren und zur Selbstverortung lokaler Künstler*innenzirkel“ geleistet. Gegen Ende des „Editorials“ dann wird ebenso guten Grundes herausgestellt, dass sich „für die ‚kleinen‘ Zeitschriften ein riesiges Forschungsfeld“ eröffne, welches „hier bestenfalls in ersten Ansätzen vorgestellt werden kann.“
Die Sektion „Kleine Zeitschriften zwischen Kunst und Politik“ eröffnet Tillmann Heise mit einem luziden Beitrag über die „zwischen Kunst und Weltanschauung“ changierende, zwischen Sommer 1922 und Frühjahr 1923 in drei Nummern erscheinende und sowohl expressionistische als auch neuromantische Texte darbietende Wiener Zeitschrift Der Zeitgeist. Dabei werden auch Zeitschriften wie Die Rettung, Der Aufschwung oder Der Strahl angesprochen. Der, typisch für den Expressionismus, in seinen Ausgaben „ganz unterschiedliche Textsorten und Themen“ vereinende und „auf eine bestimmte historische Gegenwart als „‚Deutungsversuch[] und intellektuelle Verarbeitung[] der kollektiv geteilten Erfahrungen‘“ (Stephan Möbius) reagierende Zeitgeist wird im Sinne von „Sprachrohr“ und „Kohäsionsstifter“ als distinguierender „Katalysator intellektueller Vergemeinschaftung“ (Österreichischer Kulturbund als „geistesaristokratisches Elitenbündnis“) und als „diskursgeschichtliches Phänomen“ begriffen sowie als „mediale[r] Zusammenhang“ konzeptualisiert. Besondere Aufmerksamkeit wird dem ersten, „visuell“ wie „essayistisch“ den „Topos des Aufbruchs und der Schwelle“ verhandelnden Zeitgeist-Heft gewidmet, das die „zentrale Figur des österreichischen Expressionismus“ Robert Müller mit redigierte. Die gebotene Analyse eines Auszugs aus der „chiliastisch-expressionistische[n]“ Tragödie Irdische Dreifaltigkeit von Kurt Frieberger überzeugt.
An der von November 1933 bis Februar 1935 alle zwei Wochen erscheinenden, rasch als Fachzeitschrift anerkannten Kunst der Nation lasse sich, so Nora Jaeger in ihrem erhellenden, „kunstpolitische[] Auseinandersetzungen“ unter den Nationalsozialisten berücksichtigenden Beitrag, das „symptomatisch[e]“ Zugleich aus „Verehrung“ (Joseph Goebbels) einerseits und „Diffamierung“ (Alfred Rosenberg) andererseits studieren, durch das „die Rezeption des Expressionismus im Nationalsozialismus“ gekennzeichnet sei. Die Zeitschrift, an der u.a. namhafte Kunsthistoriker, Kunstkritiker, Architekten und Museumsfachleute mitwirkten, habe unter ihrem ersten Schriftleiter Otto Andreas Schreiber, einer „Schlüsselfigur“ für die damalige Rezeption des Expressionismus in Deutschland, den Versuch unternommen, diesen „als ‚nordische‘ und damit als nationale Kunst zu verankern.“ Sein Nachfolger A. William König, von Beginn an Herausgeber der Zeitschrift, habe dann von September 1934 bis Februar 1935 als Schriftleiter auch auf personeller Ebene für eine konträre inhaltliche Neuausrichtung gesorgt.
Die Sektion „Definitorische Grenzfälle“ verzeichnet Beiträge von Laura Feurle zu „iconotextuellen Sprach- und Körperbildern in der Erstausgabe (Dezember 1917) der Zeitschrift“ Der Anbruch (Wien 1917-1918; Berlin 1919-1920; Berlin 1921-1922) und von Toni Bernhart zur Zeitschrift Pan (Berlin 1895-1900; Berlin 1910-1915) als „Seismograf des Expressionismus“.
Der Anbruch, anfangs eines der „wichtigsten Kommunikationsorgane des österreichischen Expressionismus“, ist laut der ebenso überzeugend wie innovativ argumentierenden Feurle mit seinem Zugleich von literarischen und graphischen Beiträgen in der Nachfolge von Die Aktion, Der Sturm und Ver Sacrum zu sehen. Die Titelseite der großformatigen Erstausgabe mit ihrem durchdachten Layout zeuge von den „intrikaten Verflechtungen von Text und Bild“. Nicht nur löse der zwischen zwei Textblöcke platzierte weibliche Halbakt Egon Schieles in deren Zentrum die „Programmatik des Anbruch idealtypisch“ ein. Im Prozess des von der „Materialität des Flugblatts“ bestimmten „Faltens, Lesens und Betrachtens“ agierten Text und Bild auch als „Resonanzkörper füreinander“, dergestalt, dass sie „die Aufmerksamkeit steuern und zugleich eine wechselseitige Semantisierung leisten.“
Bernhart zeichnet zunächst „Erscheinungsverlauf, Profil und Verfügbarkeit“ des Pan nach. Sein besonderes Interesse gilt der zweiten, von 1910 bis 1915 reichenden, mit dem Namen Alfred Kerr verbundenen und von der Forschung bislang vernachlässigten Phase. In der standen Literatur und Publizistik im Vordergrund. Angesichts von „rund 100 Hefte[n] mit durchschnittlich jeweils 32 Seiten“ stellt sich allerdings die Frage, ob in diesem Fall noch von einer „kleinen Zeitschrift“ die Rede sein kann. Da zudem nur „einige wenige“, sich „ausnahmslos auf bildende Kunst und nie auf Literatur beziehende Beiträge“ Expressionismus verhandeln – Bernhart kommt knapp auf acht dieser Beiträge zu sprechen –, kommen auch Zweifel auf, ob der Pan der zweiten Phase ein gut gewähltes Beispiel für „kleine Zeitschriften des Expressionismus“ ist.
In der abschließenden Sektion „Diskurszusammenhänge kleiner Zeitschriften“ beschäftigen sich Friederike Kitschen mit den zwischen 1918 und 1923 erscheinenden „Zeitschriften der Kunsthändler Emil Richter, Hans Goltz und Jsrael Ber Neumann“ (Untertitel) und Linda Göttner mit dem Sonderheft Frauendichtung (1920) der Zeitschrift Die Sichel (Regensburg 1919-1921; München 1921).
Moderne Galeristen, so Kitschen in ihrem beeindruckenden Beitrag, standen vor allem dann in einem „Image- und Interessenkonflikt zwischen Kunstförderung und Geschäft“, wenn sie eine eigene Zeitschrift herausgaben. Im Unterschied zu dem „in der Presse als ‚Reklamechef‘ tituliert[en]“ Herwarth Walden (Der Sturm) sei es den drei zuvor genannten Galeristen mit ihren ausführlich charakterisierten Zeitschriften Neue Blätter für Kunst und Dichtung (Dresden 1918-1921), Der Ararat (München 1918-1919, 1920-1921) und J.B. Neumanns Bilderhefte (Berlin 1920-1923) unter Wahrung von Geschäftsinteressen gelungen, Strategien zu entwickeln, die „eine öffentliche Beanstandung ihrer Doppelrolle“ vermieden und ideelle Bestrebungen beförderten. Beispielsweise durch die Installation eines verantwortlichen Schriftleiters und das damit einhergehende Signal „eine[r] objektivierende[n] Distanz zwischen Kunsthandlung und Zeitschrift“ (Neue Blätter, Ararat), durch „sachlich-informative“ Texte (Neue Blätter, Ararat), durch die Konzentration auf „kulturkritische Essays und literarische Werke“ (Neue Blätter), durch eine „internationale Ausrichtung“ und Themenhefte (Ararat) sowie durch eine „Editionspolitik“, die bei Abbildungen auf „Vielfalt, Erstveröffentlichung und Druckqualität“ setzte (insbesondere Bilderhefte).
Nach Göttner lassen sich am fünfseitigen, 16 Gedichte von Frida Bettingen, Erna Gerlach, Sylvia von Harden, Paula Ludwig, Elsabeth „(auch Elisabeth)“ Meinhard, Maria Reinhold, Mary Sachs und Maria Luise Weissmann enthaltenden Sichel-Sonderheft Frauendichtung „exemplarisch publikations- und literaturgeschichtliche Fragen nach der zeitgenössischen Verortung von Autorinnen in der männlich dominierten Avantgarde-Bewegung diskutieren.“ Anhand von „Themen und Schreibweisen“ wird die Konzeption des Sonderheftes – das sei kein „kollaboratives“, sondern ein „kuratiert[es] Projekt gewesen – rekonstruiert. Es würden nur „zum Teil geschlechterrollenspezifische Problematiken“ verhandelt. Mehrheitlich werde die „Perspektive eines mehr oder minder umrissenen krisenhaften“, „geschlechtlich nicht eindeutig festgelegten Ichs“ eingenommen. Es gebe aber auch Gedichte, die auf ein weibliches Ich bzw. auf ein „weiblich markiertes und unterdrücktes Kollektiv“ – Stichwort: „Schwesternschaft“ – abzielten. (Vgl. auch H. 4 Expressionistinnen der Zeitschrift Expressionismus)
Fazit: Das aktuelle Heft der Zeitschrift Expressionismus regt dazu an, die Jahrzehnte alte Expressionismus-Forschung um ein neues Kapitel zu bereichern.
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