Königin des Tamburins
Jane Gardams Heldin erteilt „Gute Ratschläge“
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWeihnachten naht und Eliza Peabody, 51, hat gerade das gemeinsame Konto, das sie mit ihrem Ehemann unterhielt, leergeräumt. Die giftige Erzählerin, die ihren Henry sexuell kaltgestellt und vielleicht in die Homosexualität getrieben hat, zieht Bilanz.
In Briefen an Joan, eine mysteriös verschwundene Nachbarin, legt sie sich Rechenschaft ab – sie benutzt ihre Briefe an die geisterhaft vage Freundin „ausschließlich als Tagebuch, als Spiegelbild.“ Ihr großes Trauma ist ihre Fehlgeburt, die sie vor zwanzig Jahren erlitt. Sie hat nie erfahren, welchen Geschlechts ihr Fötus war.
Eliza steht, wie so viele ihrer Schicksalsgenossinnen, vor dem Scherbenhaufen ihres Glücks. Und sie taxiert mit kühl-distanziertem Blick die anderen „Frauen über fünfzig“, die wie schwangere Austern in „Umstandskleidern“ Cocktail-Partys besuchen: Das Unmoralische, Unpassende, Ungehörige ist ihr großes Thema, und sie entdeckt es nicht nur bei anderen, sondern auch in sich selbst.
Am ersten Weihnachtstag bekommt sie Besuch von Thomas Hopkin, einem Mitarbeiter des British Council, der für ein paar Stunden das Szepter über sie und ihre Hunde schwingt. Eindrucksvoll wird geschildert, wie sie und ihr Zamperl (es ist letztlich wohl nur einer) sich Tom unterwerfen. Tom hat einen Blick für „unsichtbare Ehefrauen“, die von ihren Männern ehelich nicht (mehr) „gewürdigt“ werden. Sie selbst hat sich gegen diese Wirklichkeit gepanzert und ist dabei aus dem Lot geraten. Und so spielt Tom auch mit Eliza, die wiederum ein unbändiges Interesse an der flüchtigen Joan entwickelt hat – eben gerade weil sie verschwunden zu sein scheint. Sie wählt dafür den Terminus technicus „abgehauen“, ob er aber zutreffend ist?
Die interne Fokalisierung auf Eliza lässt nur indirekt andere Perspektiven zu. Da ist zum einen Barry, 22, der zum erweiterten Freundeskreis zählt und mit AIDS im Endstadium im Hospiz liegt. (Die englische Originalausgabe erschien bereits 1991, als die Rote Reversschleife gerade zum internationalen Symbol für den Kampf gegen AIDS geworden war.) Eliza besucht den Sterbenden fast jeden Tag und erhofft sich, dass der Kunstsachverständige ihr ein Bildnis schätzen möge – nicht das des Dorian Gray, sondern das eines Ahnherrn ihres Mannes: Ein Gainsborough-Schüler soll es gemalt haben, und nun will sie es verkaufen, um auch die persönlichen (und wertvollen) Dinge ihres Mannes aus ihrem Leben zu tilgen.
Von Brief zu Brief werden unterschiedliche Erlebniswelten deutlich: Der Besuch eines Literaturzirkels darf als Realsatire gewertet werden; die Entfremdung zwischen den Generationen, die am Beispiel der Nachbarsfamilie geschildert wird, ist als Sozialdrama aus der Sicht der „verwaisten“, aufs Abstellgleis geschobenen (Groß-)Elterngeneration zu lesen; das Hospizleben in Surrey ist als „Endspiel“ inszeniert. Nicht nur die Menschen tragen das „Zeichen des Todes“ in sich, auch die einsame Birke, Elizas Lieblingsbaum, ist eines Tages gefällt, als wollte man ihm „ein langes Siechtum“ ersparen.
Eliza, die Frau eines Diplomaten, ist in der Welt herumgekommen, bevor sie hier am Rande Londons gestrandet ist und ein unerfülltes Restdasein führt, ohne Ehemann, Kinder und Freunde. Ab und an erfährt man, wann diese zeitlos gültige Geschichte spielt: Der Schah ist (längst schon) gestürzt, mit dem Kommunismus ist es (gerade erst) vorbei, „viele Dutzend Zeiten“ schießen kaskadenhaft vorbei, manche durch ein „trauriges Ereignis“ bloß erinnerlich, andere fest im kollektiven Gedächtnis verankert.
Eliza, die in Bangladesh, Syrien, im Irak und im Iran gelebt hat und Farsi spricht, kennt den Clash der Kulturen aus eigener Anschauung. Schreiben dient ihr als Therapeutikum, aber der „unzuverlässigen Erzählerin“ entspricht auch eine ungewisse Adressatin. Weiß der Himmel, wo die Briefe an Joan gelandet sein mögen: „Wahrscheinlich lösen sie großes Rätselraten in allen möglichen Botschaften aus.“ Wie beim Leser auch.
Was wie eine skurrile Rochade von frustrierten Middle Ages beginnt, entwickelt erstaunliche Extravaganzen, als Eliza einem Hilferuf ihres „Patenkindes“ in ein seltsam verzaubertes Oxford folgt (wo sie einst studiert hatte, bevor sie sich selbst aufgegeben und in einer „öffentlichen Entsagungszeremonie“ ihren Henry geheiratet hatte), welches in „böse Energie“ geraten zu sein scheint. Was ist hier noch Wirklichkeit, was Phantasie, was Phantastik?
Der Genre-Mix, der hier offensichtlich an Fahrt aufnimmt, zwingt den Leser, sich beständig neu zu sortieren und den Eindruck, den er von Eliza und ihrer Welt gewonnen hat, mehrfach zu revidieren. Einerseits werden ihre Briefe immer wunderlicher, andererseits offenbaren sie große Treffsicherheit hinsichtlich prekärer sozialer Gemengelagen: Die jungen Mütter, die ihre Neugeborenen zur Adoption freigeben, werden ohne jede Nachsicht taxiert; die (jeweilige) Konsistenz der multikulturellen Räume und Milieus ist – auf den zweiten Blick – in hohem Maße vorhanden, ja beachtlich.
Eliza trägt lange Ohrringe, die wie ein Schellenbaum klingen: „The Queen of the Tambourine“ wird sie scherzhaft genannt, „Königin des Glockenspiels“. Am Ende überträgt sie das Bild ihres auffälligen Schmucks auf den „Elektroschmuck des Jahrmarkts“, den sie augenscheinlich besucht, um mit Barry Riesenrad zu fahren:
Als alle Abteile gefüllt sind, jedes Glöckchen des Tamburins, beginnen wir uns gleichmäßig immer höher und höher hinaufzubewegen und immer schneller und schneller, dann tiefer und tiefer, und bald rollen wir rasant und vom Wind gepeitscht dahin.
Realitätsblind, mit Rosaroter Brille, bewältigt Eliza ihre Aufgaben als Besuchshilfe in einem Hospiz: „Das Leben ist etwas Wundervolles.“ Das marode britische Welfare kennt sie aus dem Eff-eff, das amerikanische Sozialsystem ebenfalls; damit auch die Heerscharen freiwilliger Unterstützer im Gesundheitswesen, die Lotsendienste versehen, Patienten begleiten, Botengänge übernehmen, gute Laune verbreiten. Ob sie auf eigene Faust handeln oder sich der Salvation Army anschließen, ob sie im Sinne christlicher Nächstenliebe handeln oder am Helfersyndrom leiden, ob sie einfach ihr leeres Dasein mit einer Aufgabe erfüllen wollen, weil ihnen zuhause die Decke auf den Kopf fiele – wer weiß es, wer kennt sich schon selbst? –, ihre Motivationslagen mögen vielfältig (und „wundervoll“) sein wie das Leben selbst, aber die Helfer (und Helferinnen) sind nützlich, solange sie nicht übergriffig werden. Wenn erst die Mitarbeiter und die Patienten im von ihnen heimgesuchten Hospiz bei ihrem Anblick die Augen rollen („Die schon wieder!“) und ein Stoßgebet zum Himmel schicken („Nicht die schon wieder!“), dann stellt sich die Frage, wie man sie wieder los wird, diese Heuschrecken der Nächstenliebe, diese alltestamentliche Plage! Wie soll man auf sie reagieren, als auf diejenigen, die es gut meinen, aber ihre Grenzen nicht kennen? Mit Hausverbot? Und was nimmt man dafür in Kauf, wenn man auf sie verzichtet, weil sie lästig sind? Farewell, Welfare?
Das Problem der Überlästigen ist schon Gegenstand der berühmten Schwätzersatire des Horaz gewesen. Ihre Distanzlosigkeit, ihre Aufdringlichkeit, ihre schiere Anwesenheit reizen zum Widerstand: totschlagen könnte man sie. Man fühlt sich von ihrem Gutmenschentum zur Gewalt aufgefordert, förmlich zur Gewalt herausgefordert: Unsere Impulskontrolle versagt, und wir werden schuldig. Vielen geht es so, viele merken es auch gar nicht. Ihre Mitmenschen ziehen sich vor ihnen zurück. Man wird dadurch zum Verlierer, zum „Loser“. Peter Handke hat den Typus in einem seiner Romane (in Der Chinese des Schmerzes, 1983) genial beschrieben. Auch Eliza ist auf dem besten Wege dahin – auf der Verliererstraße des Kontrollverlusts.
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