Erzählen, damit nichts verloren geht
Martin Becker erzählt vom Aufwachsen im proletarisch-kleinbürgerlichen Milieu
Von Werner Jung
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseErneut hat Martin Becker, der 2017 in seinem Roman Herbstlicht seine Herkunft aus dem Ruhrgebiet und dem Aufwachsen in der sauerländischen Kleinstadt Plettenberg erzählt hat, auf seine Familiengeschichte zurückgegriffen. Er liegt damit sicher voll im Trend autofiktionaler Prosa, die sich wabernd und mäandernd seit Jahren bereits durch die deutsche Gegenwartsliteratur zieht. Eine Mode gewiss, die in den schlechten Beispielen von der Langeweile und dem Desinteresse an gesellschaftspolitischen Vorgängen zeugt, in den besseren Fällen dagegen aber genau diese Zusammenhänge zwischen subjektiven Befindlichkeiten und (sozusagen) objektiven Bedingungen zu verdeutlichen versteht. Dabei gehört Beckers Roman – und zu Recht greift der Autor auf diese literarische Formbezeichnung zurück – zu den Glücksfällen autofiktionalen Erzählens. Denn im Wechsel der Töne, den er meisterhaft beherrscht, verliert sich der Erzähler weder im apologetischen Verklären der Herkunft und Vergangenheit sowie in der elegischen Klage über deren Verlust noch in der drastischen Zurückweisung bzw. einer Rundumablehnung.
Der literarische Mehrwert von Beckers Erzählen entsteht an den Bruchkanten, an den Beschäftigungen mit den permanenten Widersprüchen, die seine Sozialisation geprägt haben. Dabei hebt er in seinem neuen Buch im Unterschied zum Roman Marschmusik, worin der räumliche und topographische Gegensatz zwischen dem Ruhrgebiet und dem ländlichen Sauerland zentral im Mittelpunkt gestanden hat, die familiäre Konstellation heraus:
Meine Mutter wird im September 1946 in Essen-Kupferdreh geboren. Fest steht somit nicht, ob der Mann, den sie Papa nennt, kurz vor oder kurz nach ihrer Geburt aus der Kriegsgefangenschaft kommt.
Der Vater dann:
Mein Vater wird im Februar 1940 geboren und wächst in einem Zechenhaus in Bochum-Werne auf. Von seinem Vater hat er nicht viel, der muss in den Krieg, obwohl er den Hitler hasst.
Diese beiden Menschen finden zueinander, gründen eine Familie, die am Ende vier Kinder zählt – eine adoptierte, behinderte Tochter, ein im Kindbett verstorbenes Baby und zwei gesunde Jungen. Das Milieu kleinstädtisch, „aus dem Reihenhaus.“ „Das sind wir. Mit Unterhemd, Sonnenbrand und Kippe auf dem Zahn. Mit glasigem Blick an Weihnachten und heiligem Ernst zur Konfirmation.“ Heißt es in den ersten Sätzen des Prologs, der dann so endet:
So vergehen die Achtziger und die Neunziger, […]. Mein Vater stirbt. Meine Mutter stirbt. Und dann auch noch eins von ihren Kindern. Das waren wir. Eine Familie aus der Vergangenheit. Aus der Kleinstadt, aus dem Reihenhaus. Das nie ganz uns gehörte. Wie alles. Ohne Geld, mit geringer Lebenserwartung. Arbeit taktet die Tage durch, bis sie stottern, bis sie gezählt sind.
Was dann in Beckers Roman auf knapp 300 Seiten folgt, sind Erzählungen über einzelne Episoden aus einem beschwerlichen Leben, in der Regel in knappen Absätzen von selten ganzseitiger Länge, die keiner Chronologie folgen, Ereignisse (wie die Krankheiten der Eltern, geplante und durchgeführte Urlaube an der Küste), die in Vor- und Rückgriffen thematisiert werden, wodurch ein dichtes atmosphärisches Geflecht entsteht. Im harten Gegenschnitt zu diesen proletarisch-kleinbürgerlichen Lebensläufen der Eltern („Geld als Lebensthema. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die folgenden Jahrzehnte, Hochgefühle und Krisenlagen. Es genügt hinten und vorne nicht.“) steht dann die Gegenwart des Erzählers mit Partnerin und Kind, irgendwo im sogenannten bürgerlichen Mittelstand angekommen, jedoch einerseits mit der Scham und Bürde seiner Herkunft belastet, andererseits aber vom dringenden Bedürfnis beherrscht, sich gerade an dieser Herkunft wieder ‚abzuarbeiten‘ – mit, wie es über Marschmusik seinerzeit in einer geglückten Würdigung geheißen hat, einer nahezu positivistischen Akribie, damit, wie Becker selbst an einer Stelle seines überzeugenden neuen Romans schreibt, die Geschichte seiner Familie „nicht verloren geht.“
Zu Recht spricht der Herausgeber des Lesebuchs mit Texten von Martin Becker davon, dass dieser Autor, der in jungen Jahren zwischen 2003 bis 2006 am renommierten Leipziger Literaturinstitut eine professionelle Ausbildung erhielt, „ein Meister der Variation“ sei. Das zeigt sich vor allem darin, dass Becker mit stupender Meisterschaft – dem Rezensenten sind in der neueren deutschen Literatur lediglich zwei weitere Autoren eingefallen: Norbert Scheuer und Andreas Maier, die im engsten Rayon ihrer Herkunft und ‚Lebenswelt‘ die ganze Welt zu entdecken verstehen – immer wieder die eigene proletarisch-kleinbürgerliche Herkunft zu inszenieren weiß. Nicht nur in den beiden ausgezeichneten Romanen von 2017 und 2024, sondern auch in früheren Erzählbänden wie Der Rest der Nacht (2014) oder Kleinstadtfarben (2001), worin Becker in perspektiver Verfremdung Episoden aus seiner Jugend behandelt, sowie auch in essayistischen bzw. feuilletonistischen Texten und Vorträgen, von denen das Lesebuch etliche (bislang noch nicht publizierte) Texte enthält. Immer wieder geht es in immer neuen Annäherungen darum, die eigene gesellschaftliche Herkunft zu beschreiben, sich „mit dieser familiären Existenz“ zu beschäftigen, „die von Vorneherein eine Verlustrechnung war, ein Leben auf Pump, ein auf Sand gebautes Zuhausekonstrukt, wenn man so will: das proletarische Dasein.“
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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