Vom Tag des Jüngsten Gerichts
Mircea Cărtărescu schreibt mit „Theodoros“ einen Roman, der Grenzen sprengt
Von Werner Jung
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVielleicht sollte man Mircea Cărtărescus Schlussbemerkung zuerst lesen, denn darin weist der rumänische Erzähler darauf hin, dass es den Protagonisten seines neuen Romans, an dessen Stoff er seit mehr als vier Jahrzehnten immer wieder gearbeitet habe, wirklich gegeben hat: Jenen Theodoros aus Ghergani, der mutmaßlich nach einer Quelle aus dem späten 19. Jahrhundert nach vielen Abenteuern an Land und auf hoher See schließlich Kaiser von Äthiopien geworden sei oder – mindestens – hätte gewesen sein können. Daraufhin, so Cărtărescu, habe er unter Rückgriff auf die Bibel, das heilige Buch Äthiopiens, Kebra Nagast, sowie einen anonymen historischen Text über Theodoros seinen Roman geschrieben. „Alle diese Quellen sind bearbeitet, uminterpretiert und eingeschmolzen in die Substanz des Buchs […].“ Soweit der Rahmen, auf den der Autor hinweist.
Nur, es handelt sich lediglich um einen dürren Rahmen, dessen man sich als Leser*in zwar immer wieder nur versichern kann und wohl auch muss; angesichts der wirklichen Größe dieses neuen Textes des Rumänen, dessen Romanen und Erzählungen die internationale Presse seit Jahren bereits bescheinigt, das Format eines (künftigen) Nobelpreisträgers zu haben, klingt das äußerst dürftig.
Theodoros ist ein Roman, der die Grenzen sprengt: ein historischer Roman, zugleich ein Abenteuerroman, Kolportage und Philosophie, Märchen und Mythos, eine moderne Bearbeitung des Alten Testaments bis hin zur Verkündigung des Jüngsten Gerichts, das bei Cărtărescu exakt am 4. Februar 2041 stattfinden wird. Kurzum: Der Roman handelt – und darin liegt die Quintessenz einer überbordenden, letztlich unerzählbaren phantastischen Geschichte – von nichts weniger als Gott und der Welt im buchstäblichen Sinne. An einer Stelle seines Romans, relativ zu Beginn, lässt Cărtărescu seinen Theodoros folgende Visitenkarte abgeben, als Absender auf einem Brief an einen anderen numinosen Kaiser dieser Welt, Norton 1 der Vereinigten Staaten von Amerika:
Ich Höchstselbst, Tewodoros II., König der Könige und Kaiser der Kaiser, Gatte Äthiopiens und Verlobter Jerusalems, unbesiegter Löwe von Judas Stamm, Erzbischof auf Lebenszeit der Äthiopisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche, Oberbefehlshaber der unbesiegbaren Streitmacht von Menelik etc. etc.
In Vor- und Rückgriffen erzählt Cărtărescu mal in der zweiten Person Singular, dann aus der Perspektive der Erzheiligen, also von oben (in auktorialer Manier), von der Geburt 1815 und Herkunft von Theodoros, dem Sohn einer Dienerin, irgendwo auf dem rumänischen Land, dann von dessen merkwürdig brutal-perversen Gewaltexzessen schon als Kind und Jugendlicher (Heliogabalus lässt grüßen!); es folgen die üblen Werke und noch böseren Taten, worin sich das nie zu stillende sexuelle Begehren von Theodoros ebenso wie dessen Sehnsucht nach der Einzigen und Unerreichbaren, Stamatina, einerseits zeigt und Cărtărescu andererseits gewaltige (phantastische) Gewalttaten inszeniert, um am Ende dann, nachdem Theodoros sich zu Äthiopiens Kaiser heraufgeschwindelt und hochgekämpft hat, diesem als 33-Jährigen die Pistole in den Schlund zu schieben und entleiben zu lassen.
Was bleibt, ist Cărtărescus am Ende des dritten und letzten Teils seines Romans heraufbeschworene Imagination des Jüngsten Gerichts, an dem Gut und Böse, Jesus, die Erzengel und der Teufel selbst sowie (natürlich) Theodoros wieder aufeinandertreffen und die Erzengel dem Herrn das Buch „Theodoros“ (sic!) vorlegen:
Zur Unterstützung dessen, was wir bis jetzt besprochen haben, legen wir Dir, Gott Savaoth, das Buch vor, das wir geschrieben haben, wo wir alle Taten dieses Mannes völlig unvoreingenommen und ohne ihm ins Gesicht zu blicken festgehalten haben, die guten ebenso wie die bösen, damit Du selbst gerecht urteilen mögest.
Und Gott selbst schließlich ist es, der das Buch liest und – so kann gemutmaßt werden – wieder an die Irdischen (an uns als Leser*innen) zurückreicht:
Dann standen auch wir auf – die Teufel und die Erzengel, die Verratenen und die Verräter –, und wir hielten den Atem an, dass keine Fliege mehr zu hören war. Myriaden Augen der Lebenden wie der Toten, von Bestien wie von Engeln waren auf den Finger ausgerichtet, der die Seiten wendete, auf das Lächeln des Mundes und die gekräuselten Brauen des Großen Lesers, denn nun wussten wir alle, dass das Gericht nicht über den Menschen mit seinen Sünden und lichten Momenten befinden wird, sondern über das von uns mit großer Beharrlichkeit ein halbes Jahrhundert lang geschriebene Buch.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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