Gefühlsohnmacht

Andreas Heidtmann erzählt in seinem Roman „Bei den Minderen Brüdern“ von einer Jugend zwischen Ruhrgebiet, Niederrhein und Münsterland

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wieder ein Coming-of-Age-Roman, wieder ein Generationsroman. Über den Vorgänger Plötzlich waren wir sterblich (2023) hat die Presse einmal so geurteilt, dass selten die „Desillusionierung mit einem so heiteren, ja liebevollen Verständnis für Illusionen“ dahergekommen ist. Das mag auch auf Andreas Heidtmanns (geboren 1961) inzwischen dritten Roman zutreffen, der eine Jugend zwischen westlichem Ruhrgebiet, Niederrhein und Münsterland erzählt. Der Protagonist und Ich-Erzähler Ben Schneider, kurz vor dem Abitur, kommt wegen der Krankheit seiner Mutter, einer numinosen, wohl psychosomatischen Erkrankung – man hätte seinerzeit wohl unspezifisch, aber doch verständlich von ‚Schwermut‘ gesprochen –  ins Konvikt der Franziskaner, was nicht zuletzt deshalb besonders schmerzt, weil er von seiner Freundin Rebecca, einer Musikstudentin, getrennt ist. Auch Ben, dessen Geschichte als autofiktionale Inszenierung Heidtmanns gesehen werden darf, ist Musiker, Klavierspieler, der im Konvikt schon mal die Orgel bedienen darf, und Kopf der Band „Crazy Hearts“ ist, der „hoffnungsvollsten Band“, wenn schon nicht der ganzen Welt, so doch mindestens „zwischen Lippe und Ruhr.“

Wir werden in die späten 70er Jahre zurückgeführt, eine Zeit, die von der Musik von Queen – und nur noch am Rande von Jimi Hendrix – bestimmt ist. Ben Schneider liest Jean-Paul Sartre und die Existenzialisten, stößt auf den Nobelpreisträger Saul Bellow und auf Reiner Kunze. Kurzum: es handelt sich um jene ungenaue ‚bleierne Zeit‘, die literarisch von der Lyrik der Neuen Subjektivität beherrscht ist, worin das Jahrzehnt der Politisierung zu Grabe getragen worden ist und auf den frischen Gräbern Melancholie und Desillusionierung geradezu wuchern. Mindestens im Subtext handelt auch Heidtmanns Roman davon, nämlich von den Interessen seines Protagonisten, aber auch von der Unentschiedenheit und bisweilen Antriebsgehemmtheit, die nicht nur Resultat seiner (klein-)bürgerlichen Herkunft (Weihnachten mit Kartoffelsalat und Würstchen!), sondern weit mehr noch Ausdruck einer allgemeinen Zeitstimmung in der Bundesrepublik ist. An einer Stelle fällt der Ausdruck „Gefühlsohnmacht“, der ganze Bände spricht. 

Irgendwann stirbt dann Bens Mutter, die – man erfährt nicht warum und wieso – „in den Schnee gegangen“ ist. Für Ben, über den man schließlich noch lesen kann, dass er an der Essener Folkwangschule vorgespielt hat, geht die Zeit bei den „Minderen Brüdern“, den Franziskanern, zu Ende, damit aber auch eine Lebensphase, die – äußerlich sichtbar – im Abriss des Konvikts auf den letzten Seiten des Romans terminiert: 

Was kümmerte es mich, dass bald keine Wand des Konvikts mehr stand? Was konnte mir Besseres widerfahren, als dass es kein von Pater Albert gehütetes Telefon mehr gab? Dass kein Clubraum mehr existierte, vor dem Siggi Kinzel mich abfing? Dass alle strafsühnenden Gebete hinfällig waren? Egal, wo ich den Rest meines Lebens verbachte, mir lag nichts daran, Hoffnungen zu hegen, abgesehen von der, dass mir von Zeit zu Zeit ein neuer Song gelang, der allen und niemandem gehörte.

Da geht noch mehr, und es geht bestimmt noch weiter mit Bens Lebensgeschichte!

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Andreas Heidtmann: Bei den Minderen Brüdern.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2024.
320 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783627003227

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