Eine unerfüllte Liebe
Mit „Reichskanzlerplatz“ schreibt Nora Bossong keinen Roman über Magda Goebbels, sondern spürt einer verlorenen Jugendliebe nach
Von Miriam Seidler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHomosexualität wurde in Deutschland lange Zeit als Verstoß gegen das Sittengesetz kriminalisiert. Erst im Jahr 1969 wurde der Paragraph 175 des Strafgesetzbuches soweit gelockert, dass die gleichgeschlechtliche Liebe von Erwachsenen ohne Angst gelebt werden konnte. Die Kriminalisierung von Homosexualität nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb die konsequente Verfolgung von gleichgeschlechtlichen Paaren während des Dritten Reichs, die oftmals zur Deportation in ein Konzentrationslager führte, fort. Ein zentraler Kritikpunkt an der gleichgeschlechtlichen Liebe bestand für die nationalsozialistische Ideologie nicht nur darin, dass diese widernatürlich sei, sondern ist auch dadurch begründet, dass eine Weitergabe des Erbguts in einer solchen Beziehung nicht möglich ist. Damit werden die Körper der Liebenden dem Staat, der jeden Gesellschaftsbereich überwachte, entzogen. Das Gegenmodell zu diesem sittenlosen Verhalten verkörperte die Vorzeigefamilie des Dritten Reiches: die Familie Goebbels. Joseph und Magda Goebbels hatten sechs gemeinsame Kinder, deren Namen alle mit dem Buchstaben H begannen – eine Ehrbekundung an Adolf Hitler, der Trauzeuge des Paares war.
In diesem Spannungsfeld von Mutterschaft, Paarbeziehung und Homosexualität ist Nora Bossongs Roman Reichskanzlerplatz angesiedelt. Im Zentrum des weitgehend auf historische Persönlichkeiten zurückgreifenden Romans steht mit dem Ich-Erzähler Hans Kesselbach eine fiktionale Figur. Seine Geschichte wird von 1918 bis 1944 erzählt. Sie beginnt während seiner Schulzeit und endet mit dem Attentat auf Hitler durch die Gruppe um Graf von Stauffenberg.
Hans stammt aus einer preußischen Offiziersfamilie. Seine Kindheit und Jugend sind davon geprägt, dass der Vater mit schweren Verletzungen aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrte. Die drei fehlenden Finger stehen symbolisch für den entmannten Vater, der in seinem Arbeitszimmer tagtäglich die Kriegsverläufe des Ersten Weltkriegs Revue passieren lässt und sich der Gegenwart verweigert. Nach der Schule geht Hans freiwillig zum Militär. Nach dem anschließenden Jurastudium arbeitet er zuerst im Wirtschaftsministerium und wechselt dann ins Konsulat in Mailand.
Bereits in der Schule lernt Hans Hellmut Quandt kennen. Der Sohn aus der vermögenden Industriellenfamilie hat gerade seine Mutter verloren und nimmt damit eine Sonderstellung ein – Kinder ohne Väter sind Alltag in der Nachkriegszeit, eine fehlende Mutter ist ungewöhnlich. Nach einiger Zeit kommen sich die beiden Jungen näher, wobei sich Hans auch körperlich von seinem Klassenkameraden angezogen fühlt. Eine besondere Anziehung übt auch die junge Stiefmutter des Kameraden, Magda Quandt, auf den Heranwachsenden auf. Sie ist nur sieben Jahre älter als die beiden Jungen und ihre Schönheit unterscheidet sie von den anderen Müttern. Nachdem die zunehmend selbstbewusster werdende junge Frau ihr erstes Kind geboren hat und somit ihre Pflicht als Hausfrau und Mutter erfüllt hat, beginnt sie sich in dem Industriellenhaushalt zu langweilen. Hier wird sie als jüngere Schwester von Effi Briest oder Madame Bovary gezeichnet – und was liegt da näher als dass sie sich einen Geliebten sucht, um sich die Zeit zu vertreiben.
So baut Magda eine enge Beziehung zu ihrem ältesten Stiefsohn Hellmut auf, die mit den Jahren – Hans und Hellmut sind längst aus der Schule entlassen – zu einer Liebesbeziehung zwischen den beiden führt. Hans ist in dieser Konstellation oft als Begleitung mit von der Partie – so kommt nicht der Gedanke auf, dass die beiden Quandts als Paar unterwegs sein könnten.
Als Hellmut 1927 an einer zu spät behandelten Blinddarmentzündung stirbt, bricht für Hans eine Welt zusammen. Von diesem Verlust wird er sich ein Leben lang nicht erholen – auch wenn sich die gelangweilte Ehefrau Magda ihm zuwendet. Es entspinnt sich eine jahrelange Liebesbeziehung zwischen dem Jurastudenten Hans und der Industriellengattin, die die Trennung von Quandt und den Einzug in die luxuriöse Wohnung am Reichskanzlerplatz übersteht, wo Magda in der Folge einen Salon führt, in dem sich viele Industrielle und aufstrebende Politiker der NSDAP treffen. Dabei bleibt Magda die einzige Frau, mit der Hans eine Beziehung eingeht – die Vermutung liegt nahe, dass sie lediglich aufgrund ihrer Nähe zu Hellmut für ihn als Partnerin attraktiv ist. Im Lauf des Romans wehrt er sich immer wieder dagegen, einen Ehe – wenn auch nur zum Schein, um vor einer Verfolgung geschützt zu sein – einzugehen.
Für die Faszination, die die unnahbare Magda auf Hans ausübt, findet Nora Bossong ein Bild, dass sie am Beispiel eines Jahre nach der Trennung stattfindenden Besuchs im Kunstmuseum Luzern ausführt:
[I]ch wanderte zwischen dem Lichtspiel auf einem Waldboden und einem nackten Männerrücken umher, dessen Schulterblätter im Rauschen blauer Linien ausliefen. Lange stand ich vor einem kleinen Gemälde von Vermeer, aus dem eine Frau geradezu herausleuchtete. Ich sog ihre Helligkeit in mich auf und wünschte mir, so tief in das Bild einzutauchen, dass der anhaltende, dunkle Ton endlich verstummte, der unter all meiner Geschäftigkeit lag. Nach einer Weile sprach mich der Aufseher an. Es sei nur ein schmaler weißer Rand, so hauchdünn, dass er vom bloßen Auge nicht zu erkennen sei. Aber er erwecke bei uns Betrachtern den Eindruck, als strahle die Frau von innen. Meisterschaft bedeutet ja nichts anderes, als zu wissen, wie man täuscht, sagte er. Und weniges wollen wir so sehr wie betrogen werden.
In diesem kurzen Absatz zeigt sich Bossongs Gestaltungwille, der die verschiedenen Handlungsstränge zusammenführt: Hans Ängste aufgrund seiner Homosexualität, die Medienstrategien der Nationalsozialisten, sein Verhältnis zu Magda, das einer Täuschung unterliegt – wobei die Frage ist, ob er sie oder sie ihn täuscht – und seine Schuldgefühle in Anbetracht des aufziehenden Krieges und seiner Tätigkeit für das Wirtschaftsministerium. Zeitgeschichte wird hier immer wieder thematisiert, nicht nur um das Geschehen historisch zu verorten, sondern auch um die schleichenden Veränderungen zu beschreiben, denen sich die Figuren nicht widersetzen.
Auch wenn Hans gegen Ende des Romans immer mehr von der Angst beherrscht wird, dass seine Homosexualität entdeckt werden könnte, so kann der Roman doch wenig Verständnis für ihn wecken, da seine Ignoranz gegenüber den in Deutschland verübten Verbrechen sein Mitläufertum immer schwerer erträglich machen. Dieser Erzählstrang kulminiert in einer Szene, in der es um den Holocaust geht:
In den Unterlagen fand ich das Foto eines Mannes aus dem [Warschauer] Ghetto, überschrieben mit dem Vermerk: So sieht der Volksfeind aus. Er hielt ein Kleinkind in die Höhe, dessen Leib aufgebläht war, der Blick alt und starr, die Beine dünn wie bei einem Vogel. Es sah weder tot noch lebendig aus, und es sah eigentlich auch nicht mehr aus wie ein Kind. Mir wurde übel, kurz verschwand ich auf die Toilette, und als ich später noch einmal einen flüchtigen Blick auf die Aufnahme warf, dachte ich, es sah aus wie etwas, das gar nicht auf die Welt gekommen war.
Ich meldete mich bei Fräulein Schnoop krank und fuhr noch am Nachmittag nach Florenz. Die Stadt glomm in der Abendsonne, und in einem hübschen Hotel nahe dem Dom bezog ich ein Zimmer, die Niedergeschlagenheit verging auch in der Trattoria nicht, in der ich alleine saß, und weder das Schmorgericht noch der Wein munterten mich auf. Mein Schlaf war dünn und erschöpfend.
In Deutschland leidet die Bevölkerung unter dem Krieg, die Verwaltung und SS treiben die Endlösung voran, Süditalien wird von den Alliierten eingenommen. Die Weltflucht des Konsularbeamten Hans Kesselbach wird in dem Zitat auf die Spitze getrieben. Der Gang in die Uffizien und die erneute Reflexion über ein Kunstwerk beschließen das Kapitel. Die Egozentrik der Figur soll hier vermutlich als Erklärung dafür dienen, wie die Machtergreifung und -ausübung der Nationalsozialisten möglich wurde. Doch durch die Suche nach einer Ersatzwelt in Kunst und Literatur, die schon beim jugendlichen Protagonisten angedeutet wird, erhält die Erzählung etwas Surreales, kann doch die Realität nicht auf so ignorante Weise ausgeblendet werden. Als Erklärung für die Schrecken des Nationalsozialismus wie auch für die Handlungen der Figur sind diese Beispiele wenig überzeugend, werden sie doch der erzählten Realität in keinster Weise gerecht. Gleiches lässt sich über die Figur Hans Kesselbach sagen. Sie macht im Lauf der Handlung keine Entwicklung durch und ist zunehmend unglaubwürdig in ihrer Unterkomplexheit: An ihr soll gezeigt werden, wie eine Figur zum Mitläufer wird, ihre jüdischen und sozialdemokratischen Freunde im Stich lässt und in ständiger Angst vor der Entdeckung der eigenen Homosexualität lebt. Die Konzentration auf die seelischen Nöte wird dabei zugunsten historisch unwahrscheinlicher Begegnungen mit Magda Goebbels immer wieder in den Hintergrund gedrängt. Gerade das Auftauchen des Personals aus dem Konsulat in Mailand, das in dem 2009 erschienenen und grandios komponierten Roman Werbers Protokoll bereits literarisch eingeführt wurde, zeigt das Potential, das Bossong hier verschenkt. Und so stellt sich die Frage, warum die Autorin das Genre des historischen Romans wählt.
Vom Verlag wird der Roman als ein Portrait Magda Goebbels angekündigt. Das ist natürlich ein gutes Verkaufsargument, handelt es sich doch bei Magda Goebbels, geborene Friedländer, geschiedene Quandt, um eine der rätselhaftesten Persönlichkeiten des Dritten Reiches. Durch die Liaison mit Hans stellt Nora Bossong die Frage, wie das Leben dieser Frau, die als uneheliches Kind eines Dienstmädchens geboren wurde und bei einem jüdischen Stiefvater aufgewachsen ist, anders hätte verlaufen können. Und doch dient sie – wie auch die reiche Industriellenfamilie Quandt – Nora Bossong lediglich als historisches Hintergrundbild vor dem sie das wirkliche Drama des Romans ablaufen lässt: die unerfüllte Liebe von Hans zu Hellmut.
Dieser Liebe, die so gar nicht in das Weltbild der Nationalsozialisten passt, bringt Hans einmal im Jahr ein Opfer dar: Immer am Todestag von Hellmut schickt er an Magda einen Blumenstrauß. Es ist damit nicht nur der geliebte Dritte, der die beiden verbindet. Sie wird als seine Stiefmutter zur Stellvertreterfigur, auf die er seine Liebe für Hellmut projiziert, die er doch nie hätte ausleben können, da Hellmut ihm bereits sehr früh eindeutig signalisierte, dass er sich nicht zu Männern hingezogen fühlt.
Durch die Konzentration auf diesen Konflikt und den Verzicht auf die Anbindung an die Zeitgeschichte hätte der Roman ein faszinierendes wie erhellendes Sittengemälde der Weimarer Republik werden können, wie sie beispielsweise Volker Kutscher in seiner Krimireihe um Gereon Rath zeichnet. Stattdessen wird Hans zu einer so flachen wie bemitleidenswerten Figur, die in ihrer Trauer und dem Festhalten an Vergangenem seinem Vater gleicht, der mit der Verwundung im Ersten Weltkrieg in einem historischen Moment steckengeblieben ist, von dem aus es für ihn keine Entwicklung mehr gab. Ist der Vater eindeutig traumatisiert, so stellt sich die Frage, welche Beweggründe es für die Gestaltung von Hans geben könnte. Diesem Rätsel müssen sich Leserinnen und Leser auf die Spur machen. Vielleicht gewinnt der Roman durch die Lösung dieser Frage.
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