Die besten Geschichten erzählt nicht das Leben

In „Das kleine Haus am Sonnenhang“ verrät Alex Capus, wo und wie er in den neunziger Jahren seine Autorenkarriere begann

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer wie Alex Capus längst einen exponierten Platz in der deutschsprachigen Literatur innehat und über ein großes Lesepublikum verfügt, der möchte Letzteres auch mal mit literarischen Kleinoden jenseits der Romane verwöhnen. So geschehen mit dem Western Skidoo (2012), der als Ausgleich – als „etwas Ordentliches“, wie der Autor selbst schrieb – auf den Liebesroman Léon und Louise (2011) folgen musste. Nun könnte Das kleine Haus am Sonnenhang diese Funktion nach dem Roman Susanna (2022) erfüllen – ein ebenso schmales Büchlein mit Anekdoten über die Anfänge seines Schreibens, die Sehnsucht nach Italien, einem freien Leben und Schaffen.

Es ist eine Hommage an eine vergangene Zeit im Leben des Autors, für die ein verlassenes, heruntergekommenes, eben das titelgebende kleine Haus in einem Seitental eines Seitentals im Piemont steht. In den 1990er Jahren erschwinglich und die passende Herausforderung für einen Mann, der nach dem Studium beabsichtigte, dort seinen ersten Roman zu schreiben. Sein Rückblick ist in vielerlei Hinsicht melancholisch: „Es waren die neunziger Jahre, elektronische Post gab es noch nicht. Man schrieb einander Briefe, und Zeitungen las man auf Papier.“ Lesegenuss und (eigene) Erinnerungen verschmelzen bei der Lektüre miteinander, man schwelgt in früheren (möglicherweise auch nie gelebten) Träumen und spürt den Anflug einer intimen Seelenverwandtschaft mit dem Autor. Fünf unbeschwerte sonnige Sommer, voller Müßiggang, Freunde, Liebe und Gedanken über den Sinn des Lebens.

Die Fahrten im gelben Renault 4 seiner damaligen Freundin und heutigen Frau Nadja dorthin, die heißen Juli- oder Augusttage mit wechselndem Besuch und die neue Einsamkeit, wenn alle Anfang September zurück in die Schweiz abreisten und er allein blieb. Er werkelte tagelang entweder am und im Haus herum oder tippte auf der Hermes Baby, seiner Schreibmaschine, immer neuere Versionen des Textes und wusste noch nicht, dass das stetige Um- und Umschreiben später am Computer sein Leben zum Positiven verändern und das berufliche Schreiben erst möglich machen wird.

Außer der Post gab es im Dorf nichts. Aber wenn kein Schnee lag, war ein Städtchen nur fünfzehn Fahrradminuten entfernt. Dort fand er die Bar „Da Pierluigi“, die ihm taugte: „Ich brauche nur eine, und da geh ich dann hin.“ Die Beständigkeit ist Alex Capus schon immer wichtig gewesen. Denn sein „initiales Erregungsniveau“ ist durch die künstlerische Tätigkeit so hoch, dass er bei der Wahl einer Bar, eines Ferienhauses, der Liebe des Lebens oder gar einer Pizza nicht mehr experimentieren muss. So isst er, zum Ärger seiner Frau, seit Jahren immer Pizza Fiorentina, um sich damit Enttäuschungen, Mühsal, Risiken und Nebenwirkungen zu ersparen.

Pierluigi, der Wirt der gleichnamigen Kneipe, hatte die immergleichen Stammgäste, die das Immergleiche taten und die immergleichen Themen diskutierten. Das Rituelle der zahllosen Kneipenabende war der Ruhepol des jungen Capus und prägte ihn grundlegend, ohne die Geschichten, deren Ohrenzeuge er am Tresen geworden ist, literarisch je verwerten zu wollen. All seine Beobachtungen in verschiedensten Kneipennächten bereichern trotzdem bis heute sein Schreiben, werden zusammen mit den Helden seiner Bibliothek – von Dostojewski über Zola bis zu Alice Munro – zu kunstvoll ausgeschmückten ausdrucksstarken Momenten in einem schier endlosen Ideenfundus:

„Man holt sich seine Mosaiksteine immer aus dem Steinbruch der Vergangenheit, niemand schöpft beim Erzählen aus der leeren Luft; nicht das Geringste.“

Wie Capus selbst feststellt, schreibt nicht das Leben selbst, wie die Redewendung behauptet, die besten Geschichten: „Das Leben schreibt überhaupt keine Geschichten. Nicht mal schlechte.“ Den fehlenden Zusammenhang einzelner Ereignisse, Stationen oder Geschehnisse, den herbeigesehnten Sinn, schaffen wir Menschen uns seiner Meinung nach durch Kausalketten, die wir einander erzählen. Letztlich ist der Kauf eines kleinen, renovierungsbedürftigen Hauses irgendwo im Piemont allein keine Geschichte. Erst die abschweifenden Gedanken dazu, die präzisen Beobachtungen und Erinnerungen, im Stile des Autors, berühren das Lesepublikum und lassen einen Text voller innerer Ruhe und Gleichgewicht, ohne Jammern, Vorwürfe und erhobenen Zeigefinger, aber wiederum keinesfalls zu nostalgisch, zu Papier bringen.  

Schreiben, das kann Alex Capus, und so wird die banale Dorfkneipe mit ihren lokalen Originalen, die Tankstelle mit dem italienischen Tankwart Walther, der verschwundene Opferstock aus der Kirche oder der nächtliche Störenfried auf dem Dachboden des kleinen Hauses zum literarischen Ereignis. Ganz wie es ihm sein erster Verleger damals zu verstehen gab: „Es ist nicht von Bedeutung, was Sie schreiben. Wichtig ist nur, wie Sie schreiben.“

An seinem ersten Roman arbeitet der Autor ganze fünf Winter. Danach steht er vor dem Problem, welches Ende er wählen soll. Wie aufsehenerregend kann, muss oder darf es sein?   Das kleine Haus am Sonnenhang selbst geht still und unspektakulär aus: Nadja und Alex heiraten, Freunde bringen ihr erstes Baby mit und der letzte arbeitsintensive Herbst wird bereits als monoton wahrgenommen. Es ist Zeit, den Roman zu vollenden und das schneebedeckte Piemont in ein aufregendes Autorenleben zu verlassen.

Titelbild

Alex Capus: Das kleine Haus am Sonnenhang.
Carl Hanser Verlag, München 2024.
160 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446279414

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