Cowboys und Indianer
Clemens Meyers Roman „Die Projektoren“ wirft einen kaleidoskopartigen Blick auf Verirrungen und Verheerungen der Geschichte
Von Werner Jung
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEine Schlüsselszene, mindestens für den Rezensenten, finden die Leser*innen ganz spät im neuen, über 1000-seitigen Roman von Clemens Meyer, nämlich auf S. 809 f. Dort wird vom zufälligen Aufeinandertreffen von Hitler und dem späteren Marschall Tito beim legendären Vortrag Karl Mays 1912 mit dem Titel „Und Friede auf Erden“ berichtet. Meyer lässt Marschall Tito diese Szene den aus den Karl May-Filmen der 60er-Jahre bekannten Old Shatterhand-Darsteller Lex Barker, den der Marschall verehrt zu haben scheint, erzählen:
Film. Ohne Ton. Dr. May am Pult. Schwenk aufs Publikum. Ein kleiner, dunkelhaariger Mann der lacht. Jugendliches, hageres Gesicht. Und der Marschall erklärt LEX, dass ihm der junge Hitler auf dem Gehweg vor den Sophiensälen begegnet sei. Nach dem Ende der Rede des greisen Dr. May. Und dass Hitler, und das habe er, also der Marschall, erst nach der Sichtung dieses Films begriffen, direkt in ihn gestolpert… Nein, eher gefallen. Über seine Schnürsenkel. Über eine Unebenheit im Bordstein. Sie hätten sich also kurz in den Armen gehalten.
Wie gesagt, eine Schlüsselszene, vor allem dann, wenn man Meyers Roman als einen Karl May-Roman liest, wenn man ihn als – wenn man so will – eine dialektische Auseinandersetzung mit dem Werk und der Mayschen Religionsphilosophie, die ganz im Zeichen des Humanismus und einer regulativen Friedensidee steht, verstehen möchte. Karl May, der sächsische Erzähler aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, firmiert bei Meyer als „Märchenerzähler“, wie es verschiedentlich heißt, zugleich als Mythomane und Phantast, der nicht nur seine eigenen Zeitgenossen, Jung und Alt, sondern eigentlich bis heute die verschiedenen Generationen fasziniert hat. Meyers Roman nun ist ‚auch‘ die Erzählung über die unterschiedlichen May-Rezeptionen, über unterschiedliche Lesarten, die von Mays Lebenszeiten über den Faschismus und die Nachkriegszeiten in Ost und West bis in die Jahre des Jugoslawien-Krieges und dessen Nachwirkungen bis heute reichen.
Meyer fängt dies mit seinem Begriff der „Projektoren“ – dem sprechenden Titel seines Romans – ein, der zum Ausdruck bringt, dass mit diesen Vorführapparaten etwas ins Bild gesetzt wird, das ebenso als Bebilderung einer Geschichte wie Inszenierung einer Ideologie verstanden werden kann, etwas, dessen Macht die Herrschaft über die Gedanken und Köpfe gewinnt. Und so spannt Meyer den Bogen von Imperialismus und Kolonialismus über den Faschismus und späteren Sozialismus bis zu dessen endgültiger Zerschlagung 1990/91 in Jugoslawien. Anhand unterschiedlichster Figuren aus verschiedenen Zeiten, worin sich über den ganzen Roman hinweg so etwas wie rhizomatische Verflechtungen und immer wieder auch perspektivische Verschiebungen und Brechungen ergeben, gelingt es Meyer, durch eine polyphone Erzählstimmenvielfalt Pendelausschläge sichtbar zu machen: die Begeisterung Hitlers und der Faschisten für den blond-bestialischen Übermenschen und Deutschen einerseits, andererseits das nationalsozialistische Bücherverbot in Hinblick auf Mays Spätwerk; das ähnlich gelagerte Verbot von Mays Schrifttum in der DDR, schließlich die späte Wiedergutmachung, was dann auch für die westdeutschen Verfilmungen gegolten hat.
In besonders beeindruckenden Kapiteln verschränkt Meyer die Darstellung von Mays geträumten Vorstellungen vom Orient bzw. dem US-amerikanischen Westen, in sozusagen doppelter Brechung noch in den Verfilmungen (worin z. B. Kroatien für den Orient wie auch die USA steht) mit den historischen Realitäten:
Der letzte deutsch/jugoslawische Western, der im Sommer gedreht wurde, hieß „Winnetou und Shatterhand im Tal der Toten“, und so endete es, während in der gar nicht so fernen Tschechoslowakei, bei den slawischen Brüdern und Schwestern, die Toten liegen blieben, der Abschied ein anderer war.
Dabei ‚erzählt‘ Meyer, was alles in der blutigen Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa und – besonders – auf dem Balkan vor sich gegangen ist, ohne es zu interpretieren oder raunend zu deuten. Kaleidoskopartig greift sein Roman vielmehr die Verirrungen und Verheerungen der Geschichte auf, die auf ideologisch verseuchte Hirne zurückgreift – zumeist nationalistisch-chauvinistisch-faschistischer Provenienz.
Vielleicht bleibt am Ende doch noch Mays Strohhalm kontrafaktisch übrig; im Sinne Kants als ‚regulative Idee‘ oder auch, wenngleich dieser auffälligerweise nicht im Roman erwähnt wird, von Ernst Blochs ‚Vorschein‘-Gedanken bzw. der Utopie-Vorstellung: Frieden auf Erden!
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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