Unbarmherziger Frost

Szczepan Twardochs Roman „Kälte“ macht seinem Titel alle Ehre

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Und was immer man – berechtigt oder unberechtigt – gegen die Stalin-Zeit vorbringen mag, ihre Ergebnisse waren jedenfalls nicht Niedergang und Verwesung, sondern die Entwicklung eines um Jahrhunderte zurückgebliebenen Landes in eine moderne Großmacht während eines weltgeschichtlich einzigartigen Zeitraums; damit die Überwindung von Elend, Hunger, Analphabetismus, halbfeudalen Abhängigkeiten und schärfster kapitalistischer Ausbeutung; schließlich der über Hitlers Heere, die Zerschlagung des deutschen und europäischen Faschismus sowie die Ausweitung sozialistischer Gesellschaftsverhältnisse über den halben europäischen Kontinent.
Sahra Wagenknecht, Weißenseer Blätter, 4/1992, S. 12-26

Problemlos lässt sich Szczepan Twardochs Roman Kälte als – zugegeben umfangreicher – Kommentar zu den – ebenfalls umfangreichen – Auslassungen Sahra Wagenknechts aus dem Jahr 1992 begreifen. 

Wie so oft in Twardochs Romanen konfrontiert der Autor seine Leser mit nahezu unerträglichen Gewaltexzessen. Dabei muss unterschieden werden zwischen der Rahmenhandlung, etwa zwanzig Seiten zu Beginn sowie etwa zehn Seiten zum Abschluss des Romans, und den annhähernd vierhundert Seiten des eigentlichen Romangeschehens, beginnend mit dem Datum 16. Juni 1946 und der Überschrift Das Notizbuch des Konrad Widuch

Dieser Widuch ist ein früherer Revolutionär von 1917, geboren 1895. Er erlebt die Novemberrevolution in Deutschland, um schließlich mit Karl Radek in die noch junge Sowjetunion zu gelangen. Ein geradezu vorbildlicher Kämpfer proletarischer Herkunft – und dennoch landet er nach 1937 im Lager, Opfer der sogenannten Säuberungen, ob „berechtigt oder unberechtigt“.

Dort erlebt er nicht nur die Gewalt derer, die ihn und seine Mithäftlinge bewachen, sondern mehr noch Grausamkeiten, welche die Häftlinge sich gegenseitig antuen und derer er sich selbst nach seiner Flucht schuldig machen wird.

Werfen wir einen kurzen Blick auf Stefan Heyms Roman Radek aus dem Jahr 1995. Heyms Biografie wäre es sicherlich wert, verfilmt zu werden. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft wie seiner sozialistischen Überzeugungen in die USA emigriert, war er, inzwischen US-amerikanischer Staatsbürger, ab 1943 auf Seiten der Alliierten als Verfasser von Aufrufen an den Versuchen beteiligt, die deutschen Soldaten zu beeinflussen.

Heym verließ 1953 in der McCarthy-Ära die USA und gelangte nach einer Zwischenstation in der BRD schließlich in die DDR. Erneut kam es zum Zerwürfnis mit den Machthabern, seine Bücher konnten meist nur in Westdeutschland publiziert werden.

Am 4. November 1989 meldete er sich auf dem Alexanderplatz zu Wort:

Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen! Nach all’ den Jahren der Stagnation – der geistigen, wirtschaftlichen, politischen; – den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit.

Zurück zu Karl Radek. In seinem weit über fünfhundert Seiten umfassenden Roman versucht Stefan Heym begreiflich zu machen, warum auch Radek dem stalinistischen Verfolgungswahn zum Opfer fallen musste. Geschichte wird in seinem Text erlebbar in dem Sinne, dass wir zu Augen- und Ohrenzeugen eines beinahe logisch aufeinanderfolgenden Handlungsablaufs werden. Wir freuen und leiden mit dem Titelhelden, weil wir seinen Werdegang hautnah miterleben dürfen. Beim Lesen entsteht das Gefühl, dass alles, was hier erzählt wird, sich so oder so ähnlich abgespielt haben könnte. Ein weit zurückliegendes Geschehen wird dergestalt präsentiert, dass wir seinem Verlauf durchaus mit Genuss folgen, auch wenn wir um die Tragik des Titelhelden wissen. Zur Tragik gesellt sich der Trost einer Weltsicht, welche die Veränderbarkeit dessen, was damals der Fall war, wahrscheinlich erscheinen lässt.

Von all dem kann bei Twardoch nicht die Rede sein. Nein, nicht auf jeder Seite werden Menschen die Hände abgehackt, doch während Stefan Heym Radek als einen Menschen seiner Zeit schildert, stellt sich Konrad Widuch gleich zu Beginn seiner Aufzeichnungen eine wegweisende Frage:

Ich – ein Mensch?
War ich je Mensch?

Wir wissen nicht, ob Szczepan Twardoch bei diesen Worten an Primo Levis Schilderungen seiner Zeit im KZ Auschwitz III Monowitz gedacht hat, doch fraglos fällt es schwer, Menschen wie Konrad Widuch als solche zu bezeichnen. Weit entfernt ist dieser Mensch Konrad Widuch zweifelsohne von der jiddischen Bedeutung des Wortes:

Es ist gar nicht leicht, den Respekt, die Würde und die Zustimmung zu vermitteln, die in dem Begriff mitschwingt, wenn jemand ›a real mentsh‹ genannt wird: ein Vorbild, ein edler Mensch.« Von den vielen jiddischen Lebensregeln zum Menschen thematisierte Max Weinreichs History of the Yiddish Language (1980) den Spruch »A mentsh heyst mentsh vayl er menthshet zikh«, bei dem das Wortspiel erst durch die Integration der slawischen Komponente »mentshen« (= kämpfen) entsteht. Der Kolumnist Richard Cohen ernannte 1986 in der Washington Post »Mensch« zum größten Geschenk des Jiddischen an die englische Sprache.

Wenn der Mensch, wie die Bibel es uns lehrt, Gottes Ebenbild ist, dann erscheint Konrad Widuch als Ebenbild dessen, der ihn zutiefst gedemütigt und dem nahezu sicheren Tod im Lager mit gnadenloser Gewalt zugeführt hat: Josef Stalin.

Von der Kritik wird Twardochs Roman, soweit wir die Stimmen überschauen, gelobt. Ein Lob, dem wir uns, wenn auch mit Bedenken, anschließen wollen. Denn die Lektüre mündet zwangsläufig in die Frage, ob es unausweichlich und notwendig ist, die Entmenschlichung des Menschen fast wollüstig in Worte zu fassen. So wie es Zweifel genau daran gibt, so gibt es auch gute Gründe minutiös vor Augen zu führen, wie nah beieinander Menschlichkeit und Grausamkeit liegen und als wie dünn sich die Decke der Zivilisation doch immer wieder erweist.

Anschließen müssen wir uns dem Lob auch, weil Twardoch, vielleicht am Rande der Verzweiflung, nichts unversucht lässt, vor den Stimmen zu warnen, die meinen, man könne den Diktator in Russland mittels Friedensverhandlungen besänftigen. Dazu abschließend der Hinweis von Gallus Frei, dem wir uns nur anschließen können:

Auch kein Zufall, dass der 2022 in Polen erschienene Roman zeitgleich mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine auf der Bühne erschien. Kälte ist auch eine Abrechnung mit dem Argessor Russland, einem Ungeheuer, das alles frisst und schluckt. Eingebaut in den Roman sind regelrechte Schimpftriaden, in den Mund eines Mannes gelegt, dem jede Hoffnung genommen wurde, der ganz auf sich selbst, sein Überleben zurückgeworfen ist. Geschrieben von einem Schriftsteller, der es nicht scheut, bitter notwendiges Kriegsgerät aus eigener Initiative an die Front zu schicken.

Ihr wisst nicht, wie Russland kommt, wenn es kommt. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland, versteht ihr, in Russland, das heißt in Scheiße. Damit alles genau solche Scheiße wird wie es selbst.

Titelbild

Szczepan Twardoch: Kälte.
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2024.
432 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783737101882

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