Mutmaßungen über Uta
Clemens Böckmanns beeindruckender Debütroman „Was du kriegen kannst“
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas für ein eindrucksvolles literarisches Debüt! „Die eindringliche, literarisch anspruchsvolle Schilderung des DDR-Alltags und die vielschichtige Charakterzeichnung Utas“, hat die Jury des Jürgen Ponto-Preises Clemens Böckmanns ersten Roman bereits vor dessen Veröffentlichung gerühmt. Ein Buch, das völlig ohne Ostalgie daher kommt, hier wird nichts verklärt, sondern ein DDR-Lebenslauf mit all seiner Tragik und Dramatik aus unterschiedlichen Perspektiven rekonstruiert.
Hauptfigur ist die Möbelverkäuferin Uta Lohtner, alleinerziehende Mutter aus dem Erzgebirge, die sich in den 1970er Jahren in Zwickau nach etwas Abwechslung im tristen sozialistischen Alltag sehnt. Von einem Fenster ihrer Wohnung hat sie freie Sicht auf den Eingang der Astro-Bar. Wenn sich gepflegte Männer nähern, sind Uta und ihre Freundin Gisi einem Abenteuer nicht abgeneigt. Sie sind, was die Männer betrifft, nicht sonderlich wählerisch. Hauptsache Spaß und Abwechslung vom tristen Alltag – ganz gemäß dem Romantitel Was du kriegen kannst.
Irgendwann geraten die Frauen unter Beobachtung von Polizei und Stasi. In den Protokollen heißt es: „Alle Genannten werden als männertoll eingeschätzt.“ Uta gerät in die Fänge der Staatssicherheit und wird angeworben, um einflussreiche westliche Besucher der Leipziger Messe auszuspionieren. Aus Uta wird „IM Anna“, aus dem Wunsch nach Abwechslung entsteht ein Zwangsarbeitsverhältnis „zum Wohle des Sozialismus“. Die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen zusehends, und Uta wird zur Marionette der staatlichen Behörden. Letztlich gerät sie selbst unter Beobachtung, und in dem Mikrokosmos aus Macht, Sex und Gewalt verliert sie jede Bewegungsfreiheit.
Die Beschreibung des Treibens auf der Leipziger Messe gehört zu den Glanzlichtern des Romans. Man glaubt, das Gemisch aus Tabakqualm, Alkohol und Rasierwasser riechen zu können. Böckmann erzählt diesen Roman aus unterschiedlichen Perspektiven. Da ist die Gegenwart, in der ein Ich-Erzähler mit der inzwischen gealterten und vom Leben gezeichneten Uta Lohtner unterwegs ist an Schauplätzen aus ihrem Leben. Es existieren überdies die in die Handlung eingeflochtenen Stasi-Protokolle über die „politische Prostituierte“ und dazu auch noch Utas eigene Berichte. So wird der sozialistische Alltag mit all seinen Drangsalierungen aus verschiedenen Sichtweisen beschrieben. Uta erzählt eine Geschichte anders, als sie sie in ihren Protokollen niedergeschrieben hat, ihre V-Leute haben eine wieder ganz andere Version parat. Was ist Lüge? Was ist Realität? Gibt es eine durch das politische System erzwungene Schnittmenge?
In Utas Protokollen begegnen wir sogenannten Staatsfeinden in ihren Wohnungen, die von Böckmann mit viel Liebe zum Detail beschrieben sind. Utas Aufgabe war es, die Wohnungseinrichtung zu taxieren. Später wurde geprüft, ob es „Abweichungen“ zum beruflichen Standard des Ausgespähten gibt.
Clemens Böckmann hat in seinem Debütroman die zerstörerische Kraft des totalitären Systems glänzend heraus gearbeitet – ohne großes Pathos und ohne moralische Anklage. Die Geschichte der Uta Lohtner, die auf einer wahren Begebenheit basiert, präsentiert uns den schmalen Grat zwischen Täter und Opfer und wie aus der Sehnsucht nach etwas Abwechslung ein kaum zu durchbrechender Kreislauf der Abhängigkeit entstand. Auch nach dem Mauerfall kommt die Protagonistin nicht wieder auf die Beine. Mehrere gescheiterte Beziehungen, Aufenthalte in Entzugskliniken, am Ende trinkt Uta ihren Wein mit lauwarmem Wasser vedünnt – ein Lebenslauf aus dem sozialistischen Horrorkabinett. „Was du kriegen kannst“ kann Brücken bauen und dabei helfen, das Leben in der ehemaligen DDR besser zu verstehen – abseits von Vorurteilen und Klischees in Schwarz-Weiß-Manier. Schonungslos offen erzählt, mit dem feinen Blick für Nuancen ausgestattet. Einer der besten Romane über das Leben in der DDR – auf eine Stufe zu stellen mit Jenny Erpenbecks hoch dekorierten Roman Kairos.
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