Das ist 1 Literatur

Mit „Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie“ blickt Clemens J. Setz auf die literarische Kreativität der Social-Media-Plattform zurück

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Clemens J. Setz, dem derzeit zweiten Poeta Laureatus des Literaricum Lech (nach Michael Krüger im vergangenen Jahr), ist ein Poesieband in der Bibliothek Suhrkamp erschienen, der wohl nur durch den Verkauf von Twitter zustande gekommen ist. Denn gäbe es den Kurznachrichtendienst in seiner alten Form noch, wären Setzʼ eigene Gedichte sowie andere von ihm geschätzte poetische Tweets wohl weiterhin zugänglich. Mit der Transformation zu X hat sich jedoch die Struktur der Plattform so verändert, dass viele dieser Accounts, die bei Twitter literarischen Content geboten haben, inzwischen inaktiv oder gelöscht sind. Der Band Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie ist daher ein fast schon literaturhistorisch zu nennender Rückblick auf diese Zeit. Setz versammelt und kommentiert darin im ersten Teil eine Auswahl eigener Twittergedichte aus den Jahren zwischen 2015 und 2022, bevor er in einem zweiten Teil andere Twitterwerke vorstellt, die ihm wichtig sind.

Am Beispiel von sieben Accounts gibt Setz einen persönlichen Einblick in den ausdifferenzierten poetischen Reichtum, der sich aus den Möglichkeiten des Mikroblogging-Anbieters Twitter ergeben hat. Die vorgegebene Länge der Tweets auf 140, beziehungsweise (ab 2017) auf 280 Zeichen, steckte den formalen Rahmen für eine eigene Ästhetik ab. Die kurzen, pointierten und sprachlich idiosynkratischen Beiträge, auf die Setz eingeht, zeichnen sich durch eigentümliche Gedanken aus und entwickeln einen deutlichen Wiedererkennungswert. Wenn Setz dabei von ‚Poesie’ oder ‚Dichtung‘ spricht, bezieht sich das in einem umfassenderen Sinn auf nachklingende gedankliche Sprachverbindungen, die in der auf Twitter auftretenden Form aber nicht mit „L y r i k“ zu verwechseln seien. Denn „es gibt berechtigterweise Preise“ für die letztgenannte Art von Literatur, die Setz gleichermaßen schätzt;

Aber es gibt […] noch ganz andere Bezirke dieser großen Tätigkeit, Wörter und Sätze so zu verwenden, dass sie uns sozusagen von selbst vorführen, wie eigenartig das Leben auf der Erde ist.

Twitterpoesie ist womöglich die anarchische kleine Schwester der institutionalisierten Dichtung. Im Kontrast bricht Twitterdichtung mehrere Regeln. Die Lust am freien Spiel zeigt sich schon darin, dass die Posts ohne Gewinnstreben und wohl auch nicht primär aus Profilierungsgründen abgesetzt worden sind. Das Schnelle und Ephemere der Plattform spiegelt sich in den Beiträgen der meist pseudonymen Accounts. Sie wirken zwar jeweils mehr oder weniger für den Augenblick geschrieben, entwickeln inhaltlich wie formal aber doch eine eigene Welt. Dazu tragen wiederholte sprachliche Strukturen bei, die Setz in der Darstellung der von ihm vorgestellten und geschätzten Twitter-Dichterinnen und -Dichter zu Recht hervorhebt.

Besonders auffällig ist dies bei den offenkundig bewussten und durchgängigen Abweichungen von der Orthographie, wodurch der inhaltliche Ausdruck besondere, Spontaneität simulierende Kraft erhält. Wo bei @KurtProedel einzelne Verschiebungen auftreten (‚weimen‘, ‚Imsel‘, ‚Huremsohn‘) herrscht in den Tweets von @Computerfan2001 das reinste „Tippchaos“, was aber einen eigentümlichen Sog entwickelt und in Buchform als „eines der witzigsten und sprachlich innovativsten Werke der gegenwärtigen Literatur“ gelten könnte, wie Setz meint. Das Abtauchen in diese eigentümliche Welt wird allerdings nicht mehr möglich sein. Das zuletzt wohl mehrere 10.000 Tweets umfassende Digitalwerk ist von dem Dichter Ende 2022 gelöscht worden. Nur die zufällig verbliebenen Schnipsel, die Setz „aus Begeisterung in eine Datei kopiert hat“ und dadurch nun teilen kann, eröffnen einen Blick in eine absurd-schöne Gedankenwelt.

Ähnlich verhält es sich mit den Tweet-Archiven von @liaightsout und @LunaticAbsturz: Hier ist der Großteil des Werks ebenfalls nicht mehr zugänglich. Hinter @liaightsout verbirgt sich die österreichische Schriftstellerin Julia Knaß, die ihre eingängigen und anschlussfähigen Posts aus persönlichen Gründen gelöscht hat. Von ihr stammen etwa als Sprach-‚Memes‘ beschreibbaren Tweets, wie die Frage „Ist das 1 Literatur oder [x]?“, wobei ‚x‘ für ein beliebiges Vergleichsobjekt steht. Der Account von @LunaticAbsturz (oder „Luni“) hingegen wurde nach dem Kauf der Plattform durch Elon Musk wegen eines angeblichen Verstoßes gegen die Nutzungsregeln deaktiviert. Damit ist wohl auch eines der eindrücklichsten Werke auf Twitter verschwunden. Setz attestiert dem nur pseudonym bekannten „Kerl“ eine „wahnsinnige[], übererotisierte[], sprachsprengende[]“ Kraft, die in hypermodernen, an den Rap-Jargon angelehnten Formulierungen die Gegenwart einfängt. In kunstvollem Proll-Jargon finden sich wilde und anrührende Gedanken, die oftmals durch wiederholte Anfänge (‚Beste als…‘, ‚Jetzt…‘) eingeleitet werden.

Setz sieht sein Buch auch als „eine Art von Nachruf“ auf die poetische Twitter-Bubble, deren Hervorbringungen zu großen Teilen mit dem Namen des Social-Media-Dienstes untergegangen zu sein scheinen. Die Erfahrung, dass viele Texte nun unrettbar verloren, also „inzwischen tatsächlich außerhalb des Universums“ sind, lässt Setz auch die ehemals verkündete Entscheidung, seine Gedichte nur auf Twitter zu publizieren, überdenken. Die Buchform erweist sich zuletzt als das bessere Speichermedium.

Dennoch gehen bestimmte Darstellungsformen und Bezüge durch die Druckversion verloren. So ließe sich fragen, ob nicht auch die digitale Präsentation der gesammelten Twittergedichte von Setz Teil der Beiträge ist. Viele der abgedruckten Texte sind aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst, weil sie aufgrund ihrer Länge in Threads erschienen sind, als Piktogramme mit den Möglichkeiten der Plattform spielen oder auf bestimmt Bilder, Nachrichten oder andere Tweets reagieren. Diese Replys setzen das Vorgefundene kreativ fort, bilden einen großen Teil der Twitterpoesie und lassen sich in Druckform nur durch Screenshots oder die Abbildung der Kontexte darstellen, auf die Bezug genommen wird. Das bedeutet aber auch, dass viele Texte nur bedingt für sich selbst stehen: „Überhaupt schien eine der grundlegenden Lyrik-Disziplinen auf Twitter das lineare Weiterdichten eines in einer Nachrichten-Schlagzeile begonnenen Gedichts.“ Auf Twitter ist der mediale Prompt direkt verknüpft, in Buchform muss er separat mitabgedruckt werden. Ein Gleiches gilt für Fotos, die ein Gedicht inspirieren oder als ‚Found Poetry‘ eine öffentliche Texteinheit festhalten. Es mag die Buchform daher geeignet sein, einen Rückblick auf die „Blütezeit der Twitterpoesie“ zu bieten. Sie ersetzt jedoch nicht die kreativen Möglichkeiten digitaler Plattformen, so dass sich ein Teil der ehemaligen Twitter-Community – darunter auch Setz – nun auf Instagram wiederfindet.

Im Vergleich nimmt sich Setzʼ Twitterdichtung klassischer aus als die im zweiten Teil seines Buches angeführten Accounts. Nicht nur, weil sie stärker mit kurzen gereimten Strophen arbeitet, sondern sich auch an sprachliche Regeln hält. Thematisch geht es um Alltägliches und Jahreszeitliches, meist sind die Texte auch von zufälligen Fundstücken inspiriert. Das können martialische Kuckucksuhren in einem Nürnberger Museum sein oder ein Stiefmütterchen, das aufgrund seiner Blütenblattzeichnung an Günter Grass erinnert. Häufig sind es aber aufgegriffen Sätze von Nachrichtenseiten oder anderen Twitter-Accounts, deren Sprachmaterial selbst schon poetisch scheint und, in Verse gebracht, fortgeführt wird. Mit Bezug auf den „Kochkunst-Bot“, dessen Algorithmus aus dem Sprachmaterial historischer Kochbücher zufällig Sätze generiert, spricht Setz von „magischen Sätzen“. Er bezieht sie zudem auf das von Ron Silliman geprägte Konzept der „new sentences“, womit auf die Eigenschaft von Satzkombinationen verwiesen wird, die einen nicht gänzlich abschließbaren gedanklichen Assoziationsraum aufrufen. Auch bei Twitterbeiträgen geht es für Setz um die ästhetische Kraft einzelner Sätze, die im Geiste nachwirken und mitunter gar kreative Impulse setzen. Wie andere Beiträge kommen Setzʼ Texte unprätentiös und unernst daher, greifen Kleinigkeiten auf oder bauen abseitige Gedanken, aus („Wer würde gewinnen / bei Kampf Wal gegen Riesenrad?“). Andere Gedichte drehen sich um die inszenierten Prügelorgien in Filmen mit Bud Spencer und Terence Hill oder die mit Fotobeweis festgehaltenen seltsamen Bewohner in seinem Knie.

Die Freude an kuriosen Sätzen und Bildern lädt dazu ein, alles als Material für die eigene poetische Beschäftigung zu begreifen, und macht auch vor kanonischer Großlyrik nicht Halt, wie eine Variation von Joseph von Eichendorffs „Mondnacht“ zeigt. In dem Pastiche lässt Setz die erste Strophe weg und variiert die dritte, wobei die „Seele“ des romantischen Gedichts zu „Seelen“ pluralisiert wird und sich ‚Elefanten‘ und ‚Maus‘ als Reime ergeben. Eichendorff, mag dies sagen, kann gleichermaßen als Ausgangspunkt für poetisches Riffen dienen wie ein aphoristischer Post oder eine Bildanleitung auf WikiHow. So erweitert Setz einen rhythmisch formulierten Tweet zu einem „Chanson“ und auch die zeichnerische Darstellung, wie ein Schaf fachgerecht über eine Mauer gewuchtet werden sollte, wird singbar. Die „Seelen“ von Clemens J. Setz speisen sich somit aus unterschiedlichen Quellen. Einerseits bewegt er sich bei der Darstellung von Twitter-Literatur in einem Diskursraum, der Robert Frost, Gertrude Stein und Arthur Rimbaud aufruft. Andererseits bezieht er sich auf Namen der Netzliteratur wie Tao Lin, Mira Gonzalez oder Dennis Cooper, die wohl nur wenigen vertraut sein dürften.

Mit seinem hymnischen Rückblick auf „die bemerkenswerte Nischenrevolution deutschsprachiger Poesie“ gibt der Georg-Büchner-Preisträger von 2021 eine eindeutige Antwort auf die aus derselben Netzgalaxie stammende Entscheidungsfrage ‚Ist das 1 Literatur oder Tweet?‘ Seine Faszination für das poetische Potential, das sich auf Twitter fand, ist aber durchaus nachvollziehbar. Bereits der kleine Einblick in diese Subkultur lässt den ästhetischen Reiz aufblitzen, und es finden sich schöne, lustige, skurrile Gedanken, die man, einmal gelesen, nicht mehr missen möchte. Wenn sich die gravitätische Bedeutsamkeit großer Lyrik auch nicht immer einstellt, 1 Literatur sind die poetischen Twitter-Texte allemal.

Titelbild

Clemens J. Setz: Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
174 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225592

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