Freud kam nur bis Budapest

Andreas Petersen beleuchtet so anschaulich wie informativ die Rezeption der Psychoanalyse in Osteuropa

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Historiker und Dozent für Zeitgeschichte an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Leiter der Geschichtsagentur zeit & zeugen in Zürich und Berlin Andreas Petersen legt ein Werk zu einem wichtigen, noch wenig bearbeiteten Thema vor: die Rezeption von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie im weiteren Sinne bzw. besonderen Formen der Psychologie und Psychotherapie im „Osten“ Europas. Die Verbindung von Geschichte, Politik und psychischen Phänomenen berührte er schon 2019 in seinem Buch über die Gründergeneration der DDR Die Moskauer.Wie das Stalintrauma die DDR prägte.

Seine These im neuen Werk lautet, dass sich Westeuropa und die USA, gerade auch die Bundesrepublik Deutschland, hinsichtlich der Rezeption der Psychologie oder besser noch der Psychoanalyse freudianischer Provenienz von den Ländern Mittel- und Osteuropas stark unterschieden. Filme von Woody Allen beispielsweise „funktionierten“ nur in der amerikanischen Gesellschaft bzw. in westlichen Gesellschaften.

Außer auf Freud als „Urvater” der Psychoanalyse wird auf das Werk von Alfred Adler, aber auch auf Sándor Ferenczis Leben und Werk Bezug genommen, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus für eine Rezeption dieser Richtung im Osten Europas standen, insbesondere aufgrund der Nähe von Wien zu Budapest. Adler, wie Freud praktizierender Arzt in Wien und von diesem zur berühmten Mittwochsgesellschaft eingeladen, entwickelte aufgrund seiner Heirat mit der russischen Jüdin, späteren Frauenrechtlerin und Mitarbeiterin von Leo Trotzki Raissa Epstein eine besondere Beziehung zu Russland.

Als einer der ersten Vertreter der Bindungstheorie, der Patienten zum Teil auch unentgeltlich behandelte, gehörte er der Gruppe marxistischer Individualpsychologen und -psychologinnen an, die sich bis Anfang der Dreißiger Jahre regelmäßig im Café Central in Wien trafen. Zudem hielt er regelmäßig Vorlesungen in den USA und gilt noch vor Freud als Wegbereiter der Individualpsychologie in den USA. Der in Budapest praktizierende Arzt Sandor Ferenczi, der in Wien studierte und als Assistent von Freud arbeitete, von diesem zu seinem „Kronprinzen“ ausgerufen, spezialisierte sich auf die frühkindliche Mutter-Kind-Beziehung, vor allem in seiner Tätigkeit als Neurologe am Budapester Szent Erzsébet Hospital.

Am Beispiel einiger anderer früher Vertreterinnen und Vertreter der Psychologie bzw. Psychoanalyse, wie unter anderem die wie Ferenczi in Miskolc geborene Lilly Haydu als Vertreterin der Budapester Schule, aber auch Aaron Borisovic Salchen, der den Beginn der Rezeption der Psychoanalyse in Moskau markiert, die unter Einfluss Stalins später durch die Pawlowsche Psychologie abgelöst wird, wird die Situation und Entwicklung des Unbewussten in diesen Ländern beleuchtet. Kontrastiv dazu wird auf die starke Rezeption psychologischer Ansätze in der westdeutschen Gesellschaft auf der Basis von Alexander Mitscherlichs Werks Die Unfähigkeit zu trauern eingegangen, und schließlich auf den Gegensatz zu Osteuropa verwiesen. In Westdeutschland wurde die Psychoanalyse nicht zuletzt auch innerhalb der Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit zu einem wichtigen wissenschaftlich methodischen Instrument.

In Bezug auf die DDR wird auf das Werk des Psychologen Siegfried Müller-Hegemann rekurriert, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist, und der sich vor allem mit Versuchen zur Schlaftherapie mit zum Teil „tödlichem Ausgang einen Namen machte. Müller-Hegemann führte ein bewegtes Leben, war über viele Jahre der führende Psychologe im DDR-Staat mit wechselnden politischen Positionen, dabei aber solange wie möglich auf Parteilinie, bis er schließlich in die Bundesrepublik floh, nachdem er beim SED-Regime in Ungnade gefallen war, wo er sich, noch immer Sozialist, als Systemgegner neu erfand und schließlich die Psychotherapieabteilung des Essener Knappschaftskrankenhaus in Essen aufbaute.

Ein besonderer Fokus im Werk liegt neben Ungarn und der ehemaligen Sowjetunion auf der Situation in der Tschechoslowakei (unter dem vielsagenden Kapitel Kindswohl), Bulgarien (unter dem Titel Luxus der Selbstbeobachtung) und Rumänien (unter dem Titel Vom Verbot ohne Verbot). Polen, die Ukraine,die baltischen Staaten und Belarus werden in einem Kapitel zusammengefasst. Der Titel Doppelte Auslöschung bezieht sich vor allem auf die Geschichte der Bedrohung der Nachkriegs-Psychoanalyse in Polen in der doppelten Zwickmühle von kommunistischem System und katholischer Kirche. Einen besonders signifikanten Fall stellt das ehemalige Jugoslawien der Tito-Zeit in der Spannung von Selbstbestimmung und Terror (so der Kapiteltitel) dar, wo psychologische Erkenntnisse, Therapien und Verfahren auch speziell zu politischen Propagandazwecken eingesetzt wurden. In Hinblick auf Formen einer schwindenden Selbstbestimmung ab 1948 erfährt die Zeit des Stalinismus, der gesellschaftlichen Umbrüche und der Ablösung von Freud durch Pawlow und dem ständig wechselnden, neuen Wandel des Weltbilds in Osteuropa generell eine exponierte Berücksichtigung.

Dieser politische Wandel kommt nicht zuletzt in den Lebensgeschichten der Protagonistinnen und Protagonisten und den Vertreterinnen und Vertretern psychologischer Forschung zum Ausdruck. Was fast ausnahmslos alle hier im Buch genannten Repräsentanten miteinander verbindet, ist die allverbreitete öffentliche Demütigung, ihre psychologischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse immer wieder von neuem widerrufen zu müssen, je nachdem, wie sich die politische Wetterlage darstellte und veränderte. Dabei wird die Erwähnung der dubiosen Rolle einzelner Kulturfunktionäre nicht ausgespart, beispielsweise von Georg Lukács, damals Chefredakteur des Forums, als dieser von Lilly Hajdu und einem Kollegen einen Brief wegen der Judenverfolgung erhält, und diesen,obwohl selbst Jude, kaltschnäuzig abschmettert. Lukács gilt und galt ja immer als äußerst kontroverse Figur, spätestens nachdem er in seiner Moskauer Exilzeit viele ehemalige Weggefährtinnen und Weggefährten verraten hatte.

An diesem Beispiel wird erneut die Reziprozität zwischen gesellschaftlich-politischen Situationen und der Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse deutlich, bis sich schließlich auch die erwähnten Psychologinnen und Psychologen der Politik komplett unterzuordnen hatten, von wenigen temporären politischen Tauwetterperioden einmal abgesehen. Petersen weist in einem Interview zum Werk darauf hin, dass man in den 70ern und frühen 80ern in der DDR keinen einzigen Text von Freud oder dessen Umfeld, auch nicht der Frankfurter Schule, kaufen konnte.

Andreas Petersen hat ein wichtiges Buch vorgelegt, man könnte vielleicht sogar von einer Art interkultureller Kulturgeschichte am Beispiel eines psychological turns oder besser psychoanalytischen Turns sprechen. Man muss dabei nach Meinung des Autors von völlig unterschiedlichen Prämissen und methodischem Vorwissen ausgehen, was die Haltung zur Psychologie oder Psychoanalse in Ost und West betrifft. Dabei betont er ganz ausdrücklich, dass es nicht um eine einseitige Bewertung geht, und dass etwa die Individualisierung und Singularisierung des Westens keinesfalls auch im Rückblick als das gesellschaftliche oder kulturelle Nonplusultra anzusehen seien, und diese Ansätze gerade in heutiger Zeit durchaus auch im Westen kritisch gesehen werden (im Osten sowieso). Seiner Meinung nach kann man allerdings nicht häufig genug auf die Unterschiede beider damaliger Blöcke oder Welten von Ost- und Westeuropa bis 1989 und ihrer noch immer spürbaren Folgen bis in heutige Habitusformen hinweisen.

Auf ergreifende Weise wird an Einzelschicksalen die veränderte „Wetterlage“ der Rezeption dargestellt, etwa am Selbstmord Lilly Hajdus, nachdem ihr die Ausreise seitens der ungarischen Behörden verwehrt worden war, wovon es heißt: „Am 27.Mai 1960 nahm sich Lilly Hajdu mit einer Überdosis Medikamenten das Leben. Ihr Name wurde aus der Klinikgeschichte getilgt. Im öffentlichen Leben des kommunistischen Ungarns gab es nach 1958 keine Lilly Hajdu mehr.

Insgesamt handelt es sich um ein spannend geschriebenes, gut recherchiertes und informativ und unterhaltsam zu lesendes Werk. Manches scheint vielleicht etwas zu apodiktisch formuliert, beispielsweise, wo er von der Psychoanalyse behauptet: „Tiefenpsychologische Ansätze sind in der akademischen Welt kaum mehr präsent. Ihre Vertreter meiden eher die offenen Diskursräume. Offensichtlich ist jedoch, dass Psychoanalyse und Tiefenpsychologie immer noch neben Verhaltens-, Gesprächs oder Systemischer Therapie nach wie vor zu den Haupttherapieformen in Deutschland zählen, aber wegen eines stark positivistischen Wissenschaftsverständnisses in der Ausbildung der Psychologie-Studierenden kaum, und wenn, dann erst im Masterbereich, an den Universitäten vertreten sind. Zusätzlich muss man eine kostspielige Zusatzausbildung machen und kann erst nach fünf Jahren Praxis approbiert werden. Abschließend ließe sich noch hinterfragen, ob hier nicht im Sinne eines pars pro toto, „unterschwellig” nicht die Psychologie etwas zu sehr mit der Psychoanalyse gleichgesetzt wird.

Titelbild

Andreas Petersen: Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024.
349 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783608987201

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