Das Kinderzimmer von Isaac
Einige Überlegungen zu Caspar Battegays lesenswertem Buch „Leonard Cohens Stimme“
Von Karl-Josef Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs muss im Alter von sechzehn Jahren gewesen sein, dass ich die Stimme von Leonard Cohen zum ersten Mal hörte. Über ein halbes Jahrhundert liegt dieses Erlebnis nun zurück; vor acht Jahren dann das letzte zu Lebzeiten veröffentlichte Album des Sängers mit dem sprechenden Titel You want it darker, der sich in mancherlei Hinsicht auf das Gesamtwerk von Cohen übertragen lässt. Dunkelheit konnotieren wir, um es vorsichtig auszudrücken, weder mit überschäumendem Optimismus noch mit Lebensfreude oder Trost.
„Cohen hat eine der berühmtesten Stimmen der Popgeschichte.“ Dem lässt sich zustimmen, wie auch der Beobachtung, Cohens Stimme klinge „nasal und oft gepresst, später scheppernd, rau und heiser“. All die genannten Qualitäten dieser Singstimme passen zu einem Werk, dem es meist um die eher dunklen und frag-würdigen Seiten unserer Existenz geht.
Nein, eine Bridge over Troubled Water wird uns bei Cohen eher selten angeboten, und dennoch berührt Art Garfunkels engelsgleicher Gesang seine Zuhörer ebenso innig wie die ungehobelte Stimme Leonard Cohens. Wir empfehlen übrigens unbedingt, anstatt der Studioversion der Bridge, sich die Life-Version aus dem Jahr 1969, veröffentlicht erst im Jahr 2009, anzuhören. Im Booklet ist dazu Folgendes zu lesen:
When the song ended, a hush inevitably fell over the concertgoers at each show before they exploded in a standing ovation, clearly moved by what they‘d just experienced.
Warum berührt uns eine Stimme wie die von Leonard Cohen, dieser Frage möchte Caspar Battegay auf den Grund gehen. Um nochmals auf das halbe Jahrhundert zurückzukommen: Eingefleischte Rockfans konnten damals weder mit Leonard Cohen noch mit Simon and Garfunkel etwas anfangen. Zu weich, nicht rockig genug, zu leise. Wer damals als Jugendlicher seine ganze Unzufriedenheit mit und Unsicherheit in der Welt in Songs wie Satisfaction oder Won‘t Get Fooled Again gespiegelt sah, suchte bei Cohen, Art Garfunkel und Paul Simon vergeblich nach dem Ausdruck dieses unbenennbaren Zorns, der ihn beherrschte.
Leonard Cohens Stimme lautet der Titel von Caspar Battegays Buch, dem unsere Aufmerksamkeit gilt. Und wir können das Buch allen, welche die Musik von Leonard Cohen mögen, nur empfehlen.
Doch nun kommt das Aber. Wir sprechen von der Stimme nicht nur, wenn von Singstimmen die Rede ist. So sprechen wir auch von der Stimme des Volkes, und meinen damit weder die Fischerchöre noch die Anhänger der AFD. In der Einleitung seines lesenswerten Buches präzisiert Battegay sein Anliegen:
Deshalb soll dieses Buch über Leonard Cohens Stimme nicht nur die Kulturgeschichte einiger großer Cohen-Songs nachzeichnen, sondern darüber hinaus dazu einladen, die eigenen Lieblingslieder noch einmal zu genießen.
Eine breit angelegte Deutung widmet Battegay dem Lied Story of Isaac. Dabei muss er das Lied zwangsläufig von der Stimme des Sängers und Liedschreibers trennen, denn während er dessen „Kulturgeschichte“ ergründet, verliert er phasenweise diese besondere Stimme des Sängers aus den Augen, fast möchte man sagen: aus den Ohren. Manch einer mag die nun folgenden Beobachtungen für übertrieben halten, vielleicht aber sind sie doch ein gültiges Symbol für die Vorbehalte, die sich gegen Battegays Deutungen bei aller Wertschätzung erheben lassen.
In der dritten Strophe verlässt der Song den Raum des Kinderzimmers und beschreibt eine offene Berglandschaft.
Wer das Lied, gesungen von Cohen, im Ohr hat, denkt beim Hören der ersten Strophe an einen archaisch anmutenden Raum, der überhaupt nicht definiert werden muss, denn entscheidend ist die Tatsache, dass sich eine Tür öffnet und ein übemächtiger Vater bedrohlich vor seinem neunjährigen Sohn steht:
The door it opened slowly
My father he came in
I was nine years old
And he stood so tall above me
Blue eyes they were shining
And his voice was very cold
Wie kann Battegay diesen Text mit einem Kinderzimmer in Verbindung bringen, und wie kommt er auf die Idee, sich durch das Lied erinnert zu fühlen an die „von der jüngeren Generation“ getragene „Klimabewegung“? Liegt es an meiner vagen Erinnerung an ein Erleben, das ein halbes Jahrhundert zurückliegt, wenn sich alles in mir sträubt, Cohens Musik als Einheit von Text, Noten und Stimme einer plump anmutenden Aktualisierung zu opfern? Battegays ausführliche theologisch-historische Interpretation dieser Opfergeschichte ist durchaus beeindruckend, aber lädt sie dazu ein, „die eigenen Lieblingslieder noch einmal zu genießen“? Und trifft Genuss in diesem Zusammenhang das, was es bedeutet, ein Lied wie Story of Isaac zu hören? Ein solcher stellt sich sicherlich ein, aber einer ganz besonderer Art. Ein Genuss kann es auch sein, Schuberts Liederzyklus Die schöne Müllerin zu lauschen. Battegay selbst befasst sich ausführlich mit dem Unterschied zwischen einem Popsong und dem Kunstlied, insbesondere dem der Romantik. Natürlich stimmt der Hinweis, dass die Verbindung zwischen Sänger, Text und Musik bei einem Folk- oder Popsong eine andere ist als bei einem Kunst- oder Volkslied. Doch obwohl ich vor fünfzig Jahren nicht wusste, wer sich hinter dem Namen Leonard Cohen verbirgt und ich weit davon entfernt war, ihn als Popstar wahrzunehmen, übten seine Lieder auf mich die gleiche intensive emotionale Wirkung aus wie Jahrzehnte später die Lieder von Schubert oder Mahler.
Natürlich gilt es zu unterscheiden zwischen dem emotionalen Empfinden einerseits und der Frage, wie es zu diesen diffusen Gefühlen kommt. Es gilt, um es mit den Worten Emil Staigers auszudrücken, „zu begreifen, was uns ergreift.“ Wenn Battegay Cohen auf der Bühne „die ironische Haltung einer Figur“ attestiert, „die neben der Sehnsucht nach Spiritualität ebenso die Annehmlichkeiten des bürgerlichen Lebens, des finanziellen Erfolgs und vor allem die immer wieder neue Suche nach sexueller Erfüllung“ kennzeichnet, kann ich mich dieser Diagnose nicht wirklich anschließen. Begründen darf ich diese Weigerung mit meiner nun bereits so lange andauernden Ergriffenheit, von der Staiger spricht, ohne dass ich diese begreifen und damit auf den Begriff bringen könnte.
Manche Beobachtungen zur Person des Sängers erscheinen mir, als würden Eulen nach Athen getragen, so etwa wenn Battegay darauf verweist, dass Cohen von manchen Seiten „als reaktionärer und konservativer Künstler“ bezeichnet wird, um ihn anschließend zu retten:
Ohne diese unangenehmen Seiten von Cohens Leben und Werk beschönigen zu wollen, können wir seine Stimme als eine zumindest humanistische und antichauvinistische retten, sicher nicht systematisch, aber doch anekdotisch, wenn wir auf Cohens explizite Äußerungen seiner späteren Jahr hören.
Cohen lasse sich „nicht als Feminist bezeichnen“ – wer wollte dem widersprechen, aber was macht es für einen Sinn, darauf hinzuweisen?
Es scheint mir, dass Battegay die zweifelsohne vorhandene Ironie, mit der Cohen sein Werk auf der Bühne und in Interviews kommentiert, so deutlich in den Vordergrund stellt, dass ein anderes Merkmal seines Werkes wie seiner Person droht, in den Hintergrund zu geraten, ich meine die tiefsitzende Zerrissenheit beider, des Werkes wie seines Sängers. Nach meinem Dafürhalten dient die Ironie vielleicht eher dem Zweck, die Dringlichkeit, mit der sich die Verzweiflung dieses Menschen Leonard Cohen immer wieder zu Wort meldet, sowohl zu bekämpfen wie auch zu verbergen. Es scheint mir, als wolle Cohen mit Hilfe der Ironie sich selbst und sein Publikum dahingehend besänftigen, dass es so schlimm doch nun auch wieder nicht sei, wohl wissend, dass es schlimm ist und dass die Verzweiflung sich nur im Zaum halten lässt, wenn sie als Lied zu Gehör gebracht wird.
Abschließend möchte ich auf die Fernsehserie So long, Marianne hinweisen, in der Mediathek der ARD noch verfügbar bis zum 22. September kommenden Jahres. Meine subjektiven Einwände gegen das Buch von Caspar Battegay, so muss ich gestehen, speisen sich aus dem Tenor dieser Serie, in der Cohen als eben der zerrissene Mensch erscheint, als der er wie seine Lieder beim Schauen der Serie aus meinen Jugenderinnerungen aufgetaucht ist.
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