Der unbesiegbare Sommer der Poesie
Marie T. Martins gesammelte Prosa und Lyrik inklusive Nachlass in „Der Winter dauerte 24 Jahre“ würdigen angemessen das Werk einer früh verstorbenen großen deutschen Poetin
Von Marcus Neuert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer sich auf die Gedichte und Geschichten, Miniaturen und Gedankensplitter von Marie T. Martin einlässt, wird mit dem belohnt, was Literatur wesentlich macht: mit dem Blick auf sich selbst. Die Autorin, 1982 in Freiburg geboren und nach Lebensstationen unter anderem in Leipzig und Köln ebendort im Winter 2021 nach schwerer Krankheit verstorben, verstand es wie wenige ihrer Generation, jene spröde Empathie für ihr Schreiben zu wecken, in welchem Verstörung und Vertrauen, existenzieller Abgrund und Heilung stets dicht beieinander liegen.
Das gilt für Martins Lyrik wie für ihre Prosa gleichermaßen. Der Poetenladen-Verlag in Leipzig hat nun die dichterischen und erzählerischen Hauptwerke der Autorin in einem Band zusammengefasst und dabei auch die Prosasammlung, nach welcher das ganze Buch benannt ist und die zu Lebzeiten Marie T. Martins nicht mehr erscheinen konnte, mit berücksichtigt. So sind hier in chronologischer Reihenfolge der Erzählungsband Luftpost (2011), die Gedichte aus Wisperzimmer (2012), die Prosa-Sammlung Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen? (2015) sowie der Gedichtband Rückruf (2021) vereint, gefolgt von jenem Prosa-Miniaturenzyklus Der Winter dauerte 24 Jahre, den die Dichterin noch vor ihrem Tod zur Veröffentlichung vorbereitet hatte. „Einige wenige Miniaturen wurden gestrichen, gekürzt oder behutsam redigiert“, wie es die Herausgeber Hanna Lemke und Andreas Heidtmann in einer editorischen Notiz vermerken. Was ganz fehlt, sind Marie T. Martins Hörspiele, das Libretto zu den als „Oper im urbanen Raum“ betitelten und 2014 in Köln uraufgeführten Love Songs for Heim@t sowie alle nicht ursprünglich beim Poetenladen erschienenen Prosaveröffentlichungen.
Dennoch zeichnen die im Band versammelten Hauptwerke der Autorin deren wesentlichen Schaffensweg nach. Vor allem für ihre Lyrik ist Marie T. Martin zu Lebzeiten ge- und verehrt worden – doch das lyrische Moment strahlt auch stets aus ihrer Prosa heraus. Gleichzeitig ist an diesem Merkmal die auffälligste Entwicklung der Dichterin erkennbar: sind die Prosatexte aus Luftpost noch stärker an konventionelles Erzählen angelehnt, so extrapoliert sich der poetische Einfallsreichtum und die explizit von der Lyrik her zu lesende Bildsprache in den beiden späteren Prosa-Sammlungen immer offensichtlicher; nach und nach findet gewissermaßen eine Art Engführung der Gattungen statt, denn gleichzeitig lassen sich im späteren Lyrikband Rückruf wiederum unterschwellig häufiger Dynamiken beobachten, die man schon beinahe als inner-gedichtliche Handlung bezeichnen könnte. Das lyrische Im-Augenblick-Sein der Gedichte aus Wisperzimmer tritt dagegen zurück. Lyrik und Kurzgeschichte gehen immer häufiger eine fast zwangsläufig anmutende Symbiose ein. Sie zeichnen eine Arbeitsweise nach, die an ihrem Endpunkt womöglich zu Texten geführt hätte, die man nur noch gattungsneutral hätte betrachten können. Doch so weit gehen die Miniaturen aus dem Nachlass noch nicht, auch wenn sie sich einer Gleichgewichtung von Lyrik und Prosa annähern.
Gleichzeitig ist auch eine Entwicklung der dichterischen Grundhaltung von Marie T. Martin zu erahnen, auch wenn sie diese in einem späten Interview mit Norbert Hummelt, ihrem ehemaligen Professor am Leipziger Literaturinstitut relativiert: „Manchmal allerdings lese ich dann frühere Texte und denke, ach, ich bin überhaupt nicht weitergekommen. Die alten Fragen sind ja schon in der Teenagerzeit formuliert.“ Dennoch konzediert sie sich letztlich – zu Recht – selbst eine zunehmende Mehr- bzw. Vielschichtigkeit, eine differenziertere Wahrnehmung und ein formales Fortschreiten. Zwei kurze Zitate aus Wisperzimmer einerseits und Rückruf andererseits mögen hierfür exemplarisch erscheinen: das „immer noch trägst du / das Kinderhaus / durch den Schnee“ (aus: Verbündete unter den Spatzen) kontrastiert deutlich mit dem „ich suche nach etwas das keinen Boden hat / und trotzdem trägt (aus: Nie verzweifeln oder lange unentschieden sein“). Die Verletzlichkeit bleibt, doch die Kühnheit der Erwartungen steigt.
So scheint im Laufe der Jahre immer deutlicher auch eine Veränderung in der Lebenshaltung stattzufinden, als riefe uns die Dichterin zu: ja, es stimmt, das Dasein ist oft verstörend, aber es multipliziert auch im Hintergrund die Hoffnung. Es ist wie ein Sparbuch, von dem wir durch unseren Tunnelblick viel zu oft nur die Abhebungen wahrnehmen, die wir schon getätigt haben und uns um den immer kleiner werdenden Rest ängstigen. Wird dieser Blick in den frühen Geschichten aus Luftpost oft noch bestätigt, melancholisch gebrochen und wie in leiser Trauer unseren Schläfen einmassiert beim Lesen, so verliert sich dies in den späteren Texten mehr und mehr. Der Blick fällt auf die Spalten mit dem Aufgehäuften, den Gutschriften unseres Daseins, derer wir gewiss werden; ohne dass uns das Mühevolle des Weges ganz verlässt, findet sich eine gewisse Leichtigkeit des Ertragen-Könnens dazu, obwohl sich das Leben selbst nicht verändert hat, uns oft genauso kalt und unnahbar zu begegnen scheint wie je.
Marie T. Martins Texten, insbesondere der späten Prosa, haftet oft auch ein Moment des Grotesken an, doch sie sind in Wahrheit nie grotesker als das Leben, welches wir kennen. Und noch in den verzweifeltesten davon spüren wir das Diktum Camus‘, das vielleicht zum Tröstlichsten gehört, was die Literatur hervorgebracht hat: „Im tiefsten Winter erkannte ich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer wohnt.“ Mag auch unser Winter womöglich 24 Jahre dauern – den unbesiegbaren Sommer der Poesie finden wir in den Verdichtungen von Marie T. Martin.
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