Isegrims Panoptikum und homo homini lupus
In seinem Roman „Vom Norden rollt ein Donner“ konstruiert Markus Thielemann ein polyvalentes Bedeutungsgefüge rund um den Wolf
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMarkus Thielemanns zweiten Roman – Von Norden rollt ein Donner, auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2024 – hätte man nicht besser rahmen können – im wahrsten Sinne des Wortes. Das Gemälde Heidelandschaft von Eugen Bracht aus dem Jahre 1878 erstreckt sich über beide Umschlagseiten und den Buchrücken. Jäh destruiert wird es von einem offenen grauen Rechteck, auf dem sich schemenhaft Wolken erkennen lassen. Magentafarben prangen auf ihm der Name des Autors und der Titel des Romans. Wolkenbild im Rahmen (so belehrt das Impressum) und in diesem wiederum Eugen Brachts trügerische Idylle. Inmitten der Herde Heidschnucken, die im leicht düsteren Ödland grasen, ist Gefahr in Verzug. Mensch und Tier stehen unter Beobachtung, denn es scheint, als ob man mit einem Vierkantrohr auf sie ziele.
Spätestens dann, wenn der Blick zu den Umschlaginnenseiten wandert, offenbart sich das Menetekel, das über der Heide lastet und das sich arglosen Tourist:innen, auf der A7 in Richtung Hamburg unterwegs oder die Center Parks Bispinger Heide ansteuernd, nur bedingt erschließt. Rheinmetall, das größte Rüstungsunternehmen Deutschlands, hat seinen Hauptsitz bei Unterlüß. Südwestlich davon befindet sich die Gedenkstätte Bergen-Belsen, die direkt an den NATO-Übungsplatz Bergen anschließt. Weiter im Norden dehnen sich die Truppenübungsplätze Munster Nord und Munster Süd in unermessliche Weiten aus. Unterhalb davon erstreckt sich der Naturpark Südheide.
Peritextuelle Elemente also wie ein Paukenschlag, quasi den Beginn von Beethovens Fünfter Sinfonie parodierend, dazu paradierend. Wie dem auch sei – so entsteht eine hervorragende attributive, historische und kriegerische, Rahmung tragischer Entwicklungen.
Das ganze Jahr über rollen die Donner von Norden, von der Waffenfabrik her, wenn Jannes Kohlmeyer, 19 Jahre alt, mit 42 Ziegen und 357 Heidschnucken in der Südheide nahe Unterlüß unterwegs ist. Nicht nur er, sondern auch sein Stiefvater Friedrich, seine Mutter Sibylle und Wilhelm, sein Großvater mütterlicherseits, leben auf dem Hof und sind für die Tiere verantwortlich. Jannes sorgt sich um Friedrich, der mehr und mehr „Ausfälle“ hat, so dass er befürchtet, er könne an Demenz erkranken wie seine Großmutter Erika, obwohl er nicht mit ihr verwandt ist.
Der Bedrohung durch Wölfe begegnen Jannes und seine Familie, indem sie ihre Tiere abends in die Stallungen holen und dort neben den beiden Hüte-Collies eine riesige weiße Kangal-Hündin zum Schutz der Herde unterbringen.
Als Jannes mit Freunden eine Halloween-Party feiert und allein nach draußen geht, denkt er daran, dass seine Großmutter, bevor sie in die Senior:innenresidenz zog, sehr oft den Namen „Rose“ rief. In diesem Kontext hat er zum ersten Mal die Vision eines Augenpaars, das ihn beobachtet. Nach der Party schreibt er sie seinem Alkoholkonsum zu, doch später steigert sich die Vision mehr und mehr zum furchterregenden Bild einer verletzten, in nassen Mantel und schimmelfleckigen Rock gekleideten Frau, deren starrem Blick er sich nicht entziehen kann.
Im Winter besucht ein Filmteam des NDR den Heidehof, um das Leben und die Arbeit seiner Bewohner:innen zu dokumentieren. Diesem und allen anderen, die es hören wollen, erzählt der Großvater voller Stolz, dass er nach dem Krieg den letzten Wolf, den sogenannten „Würger“, in der Heide erlegt habe. Dabei habe ihn der Gutsherr Karl Teusch begleitet.
Beim Betrachten alter Fotos, während eines Besuchs der Großmutter im Pflegeheim, beginnt Jannes allmählich zu begreifen, was es mit seinen Imaginationen auf sich hat. Er versteht, warum der vermögende Gutsherr Karl Teusch, dessen Gebäude nun einen Landgasthof beherbergen, seinen Großeltern eine üppige Hochzeitsfeier finanzierte.
Zwar versammeln sich die Bewohner:innen von Unterlüß, um über die Gefahr, die durch Wölfe ausgeht, zu diskutieren. Aber ist sie überhaupt virulent? Wenn, dann allenfalls als Faktor, den man managen kann – mit Herdenschutzhunden oder Eseln auf der Weide.
Im Grunde genommen ist die extrafiktional real existierende und aktuell nicht selten medial überinszenierte Wolfsgefahr für Im Norden rollt ein Donner zu vernachlässigen. Vielmehr ästhetisiert Thielemann den Wolf als polyvalente Metapher oder, besser noch, als Symbol für ein ganzes Bündel an Bedeutungen. Da ist als Erstes die Gefahr durch die militärische Vereinnahmung der Landschaft. Mit dem Wolf könnte Thielemann auf das Panzerfahrzeug namens Wolf alludieren. Vor allem tobten Krieg, Sklaverei und Genozid während der Naziherrschaft in der Heide. Im 21. Jahrhundert dräut der Geist der Zerstörung bei Rheinmetall und auf den Übungsplätzen.
Im Mitteilungsblatt der Gemeinde vom Oktober 2013 stößt Jannis auf einen Artikel der amerikanischen Kunsthistorikerin Edith Balas, ehemalige Sklavenarbeiterin in einem Frauenlager bei Unterlüß, die zu Kriegsende mit anderen Überlebenden von Zivilisten nach Bergen-Belsen gebracht wurde. Dort traf sie auf Berge von Leichen. Sie überlebte nur, weil der Lagerkoch Kartoffeln verteilte.
Nach dem Krieg wird die rätselhafte Rose, eine Sinti und Roma-Frau, in der Südheide ermordet. Sie ist es, die Jannes in seinen Visionen heimsucht. Sie war es, die der Gnadenlosigkeit des von faschistischer Ideologie durchdrungenen Karl Teusch zum Opfer fiel. Eine Ideologie, fatalerweise immer wieder grassierend, im Jahre 2015 unter anderem bei Jannes‘ neuen Nachbarn: Karl Röder und seine Familie kommen sehr traditionalistisch daher, „wie aus der Zeit gefallen“. Frau Röder in einem „langen, wollenen Faltenrock“, die beiden Söhne in Lederhosen und der Vater in einer Trachtenjacke mit einem Anstecker in Form einer kleinen Wolfsangel. Im Mittelalter habe man vermutet, so Röder, dass eine Wolfsangel vor Wölfen schütze, es sei ein „altes Zeichen für Widerstand und Kampf gegen die Bedrohung, Heimatschutz.“ Und er kommentiert dazu, dass das Zeichen „auch heute sehr gut in die Zeit“ passe, „wenn man sich mal umschaut in diesem Land“.
Gleichermaßen erstreckt sich der Wolf auf die existenzielle Bedrohung – auf Krankheiten, die Mensch und/oder Tier heimsuchen können, angefangen bei Problemen beim Ablammen – eine mögliche Infektion der Lämmer mit dem Schmallenberg-Virus – bis hin zu Jannes‘ Furcht vor dem Verlust seiner Persönlichkeit. Hinzu treten weitere Ängste – vor dem Klimawandel, ebenso vor medialer Vereinnahmung, sich im Roman unter anderem mit der respektlosen Duz-Kultur der NDR-Regisseurin konkretisierend, vor überbordendem Tourismus, vor Reisenden auf der Suche nach einer Idylle, die längst obsolet geworden ist.
Nicht zuletzt ist der Wolf einzuordnen in ein Geflecht von Intertexten – von Aesops Fabeln über die Märchen der Gebrüder Grimm, vom „Roggenwolf“, einem „wolfsgestaltigen Korndämon und Kinderschreck der deutschen Sage“ bis hin zu Bram Stokers Dracula, Hermann Hesses Steppenwolf und vielleicht Käthe Recheis‘ Der Weiße Wolf, ein Kinderbuch, in dem der Wolf positiv konnotiert wird.
Dem Tier bietet die eigenwertig akzentuierte und autonom agierende Heidelandschaft eine adäquate Bühne. Genauso tut sie es für Jannes, einen Außenseiter im Kreis seiner Freunde. Er ist mit Harry Haller in eine Reihe zu stellen, in ihm selbst residiert das, was er seinen Schnucken zuschreibt: ein „archaisches Wesen“. Die Landschaft habe „ihm Stricke um die Glieder gelegt, mit neunzehn“. Er sei „der angebundene Bock, der hier am Rande seiner Weide steht und nicht weiterkann“. Als Jannes mit seinem Vater einen Wolfszaun errichtet, arbeiten beide „wie Zugvieh, sechzehn Stunden am Stück“. Für sie wandelt sich das Tourist:innenidyll aus „Liedern, Büchern, Film und Fernsehen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen“ zu einer „Landschaft, die so lieblich blüht und strahlt in Rot und Violett, den Farben des Hämatoms, der nie verheilten Wunde“.
Jannes erweist sich von Anfang an als sehr plastischer, sehr authentischer Charakter, als adoleszenter Mann, zerrieben von seinem Beruf und den damit verflochtenen Existenzängsten. Er vermisst das Auenland seiner Kindheit, die Hobbit-Heimat aus den Filmen, die er als kleiner Junge mit seinem Stiefvater „an ruhigen Sonntagen“ gesehen hat.
Von Norden rollt ein Donner wird konsequent im Präsens erzählt. Dem Roman kommt so die Unmittelbarkeit eines dramatisch-dynamischen Tableaus zu, nur durchbrochen von Rückwendungen im Präteritum. Die Erzählperspektive ist homodiegetisch, doch personal. Gerade im Verzicht auf die Ich-Perspektive intensiviert sich der narrative Duktus.
Ziemlich genau zehn Monate umfasst die erzählte Zeit – vom Abklingen des Tourismus im Oktober 2014 bis hin zur „Niederkunft des Sommers“ im August 2015, die Jahreszeit, in der Ströme von Wander:innen hinter den Schnucken herlaufen, um Hirt und Herde zu fotografieren.
Der Roman endet mit der verstörenden Vision einer Interaktion der Vergangenheit mit der Gegenwart. Akkumulationen und Vergleiche, durchweg Kennzeichen von Thielemanns Stil, dienen im Finale der Konfrontation divergenter Elemente, die sich nicht allein auf unterschiedliche Zeitebenen reduzieren lassen.
Insgesamt gelingt es dem Autor auf hohem ästhetischem Niveau, Natur zu anthropomorphisieren und somit vorzuführen, wie eng die Natives der Heide mit ihrer Umgebung verquickt sind: Ende Oktober etwa bildet die Herde in Jannes‘ „Rücken eine breite graue Schleppe“, nur „Wacholdersträuche“ ragen aus „Kraut und Sand“ empor, „zerbrochenen Säulen gleich“.
Ob der Wolf als Metapher und/oder Symbol etwas überfrachtet wird – darüber ließe sich genauso diskutieren wie über manche inhaltlichen Elemente, die kurz angerissen, dann wieder fallengelassen werden – so die Erlebnisse von Edith Balas oder die Erkrankung des Vaters, die nicht mehr thematisiert wird, als er sich intensiver mit der eventuellen Verbreitung von Wölfen auseinandersetzt und sich dem neuen Nachbarn anschließt. Etwas in der Luft hängen bleibt zudem die Geschichte der Familie: Jannes‘ leiblicher Vater starb in Bosnien, als sein Sohn ca. drei Jahre alt war. Janine, Jannes‘ ältere Schwester, ist nach dem Abitur aus der Heide weggezogen. Sie hat ein Studium abgeschlossen und ist eine Ehe eingegangen, bevor sie sich endgültig von der Familie losgesagt hat.
Von Norden rollt ein Donner ist eine dezidierte Anti-Idylle. Aus der Reihe anderer vorzüglicher Gattungsbeispiele – von Dörte Hansen, Julie Zeh oder Alina Herbing – ragt der Roman heraus, weil er noch prononcierter verbildlicht und mit Jannes‘ Visionen ins Fantastische kippt.
Thielemann bietet eine wohldosierte Mischung aus Engagement im Allgemeinen und Aktualität im Besonderen. Im Bild des Wolfes konzentriert sich beides: Aspekte anthropologischer und historisch verankerter Aggression genauso wie tagespolitisch relevante Entwicklungen, die Menschen und ihre Umwelt bedrohen.
Während sich der real existierende Wolf zähmen lässt – was z. B. die Pianistin Hélène Grimaud mit Bravour beweist –, ist es schlechterdings unmöglich, ihn als omnipräsente Größe, als Herrscher über ein Panoptikum in der von Jeremy Bentham geprägten Bedeutung, als Beobachter seiner „Gefangenen“, zu eliminieren. Jederzeit könnte dieser Beobachter außer Kontrolle geraten und zuschlagen – homo homini lupus.
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