Erste Hilfe nach dem Blutbad
Eine mediävistische Konferenz nähert sich erstmals Felicitas Hoppes Nibelungenbuch
Von Nathanael Busch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMan muss Hoppe schon Respekt dafür zollen: Sie steht auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, ist weltweit anerkannte Schriftstellerin, mit bedeutenden Preisen versehen und als Poetikdozentin gefragt. Sie hätte es sich – und ihrer Leserschaft – einfach machen können, hätte sie ein leicht verdauliches Nibelungenbuch vorgelegt, eine bekömmliche Aktualisierung der Geschichte für all jene, die weder zum Original noch zur Übersetzung greifen wollen. Sie hätte, wie Schriftstellergenerationen vor ihr, dem mittelhochdeutschen Epos irgendeinen modernen Sinn überstülpen können („neu erzählt“, heißt es noch auf dem Klappentext irreführend). Es wäre absehbar, dass so ein Buch für Hoppe zu einem Achtungserfolg geworden wäre – und zu einer Gelddruckmaschine: in Abiturklassen gelesen ad nauseam, in den Feuilletons freundlich, aber distanziert besprochen. Das Ende vom Lied? Der unterstellte Sinn wäre dann eben doch zu klein gewesen für die Größe ‚unseres‘ Epos, wieder einmal hätte es geheißen: ‚Nibelungen, nie gelungen‘. So hätte es gewesen sein können.
Hoppe hat sich all dem entzogen und 2021 mit Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm ein weitgehend kryptisches Buch vorgelegt. Dieses Buch bleibt einem derart verschlossen, dass es nicht einmal mit ‚nie gelungen‘ angemessen beschrieben ist. Die Literaturkritik hat die Publikation als Ereignis gefeiert. Bald jedes Feuilleton, das etwas auf sich hält, äußerte sich noch vorab dazu. Man reibt sich angesichts des Lobes die Augen, denn kaum ließ sich in der Rezension erkennen, dass die Leserschaft ihre liebe Mühe haben würde mit diesem zähen Stück Literatur. Doch das Buch ist nicht misslungen, und auch nicht ist es Hoppe egal, ob es gelesen wird. Sie hat es weder für sich selbst noch für die Schublade geschrieben, sondern damit es gelesen wird.
Aber wie? Wie soll man es denn lesen? Das Buch entzieht sich der Tendenz, die Nibelungen unterhaltsam, komisch oder ‚trashig‘ aufzuführen, wie sie sich in den letzten 20 Jahren durchgesetzt hat (und kürzlich mit kaum zu überbietender Langeweile wieder einmal ins Kino gekommen ist). Das Buch lässt einen ratlos zurück, nicht in einem positiven Sinne, nicht dass es einen, wie man landläufig sagt, ‚zum Nachdenken anregt‘, dass es nachvollziehbar verstört, sondern ratlos, weil man es nicht zu fassen bekommt. Das Buch ist gnadenlos überdeterminiert, arbeitet (womöglich?) mit Allegorien, dokumentiert auch eine langjährige Beschäftigung mit dem Stoff, setzt viel voraus, stellt aber auch nicht unnötig Gelehrsamkeit aus. Hoppe umgeht die häufige Zuschreibung, nach der der Stoff entweder zu leicht oder zu bedeutsam adaptiert wird. Ihr Buch ist nicht Fantasy und auch nicht das Pflichtbuch der bundesrepublikanischen Gegenwart.
Was auch immer man von diesem Buch hält, mich provoziert es. Ich möchte es bewältigen, es erklären oder erklärt bekommen. Für sachdienliche Hinweise, wie man es lesen soll, bin ich daher jederzeit dankbar. Umso erfreulicher ist es, dass die Universität Hamburg einen Workshop organisierte, dessen Akten nach etwas mehr als einem Jahr vorgelegt werden konnten, beides also in einem für Geisteswissenschaften geradezu atemberaubenden Tempo nach der Publikation des Stummfilms. Die unter der Leitung von Martin Baisch, Sebastian Holtzhauer und Sarah Rose herausgegebenen Beiträge, so heißt es im Vorwort, „analysieren in textnahen und sensiblen Lektüren das Erzählen in Hoppes Nibelungenbearbeitung, seine Formen und Funktionen mit methodisch unterschiedlich und theoretisch fundierten Herangehensweisen“. Nun gut, anscheinend wollte man sich vor und nach dem Workshop nicht auf gemeinsame Thesen der acht Aufsätze verständigen. Offenheit ist Programm.
Der Band wird eröffnet mit einem Beitrag von Bent Gebert, der die Polarität zwischen Traditionsaneignung und ‑verweigerung mit der aktuellen Debatte um die Restitution von Kulturgütern engführt. Er deutet den von Hoppe fortwährend genannten, aber unbestimmten ‚Schatz‘ in Hinblick auf die Nibelungentradition. Indem sie sich der einfachen Auslegung des Stoffs entzieht, verweigert sie sich dieser Tradition und „dokumentiert […] vielmehr das Übertragungspotenzial eines Schatzes, der sich gleichsam als Zwangsgestalt fortschreibt“. Hoppe zeigt durch fortwährende Anspielungen, die meist weder erklärt noch festgelegt werden, dass die Aneignungstradition der Nibelungen fortwirkt. „Poetik der Restitution“ hieße auszugestalten, „dass weder Zurückweisung noch Aneignung diese Tradition abschließen“.
Im zweiten Beitrag des Sammelbandes stellt Ronny F. Schulz den Text in den Zusammenhang der komischen Nibelungenrezeption. Er kann zeigen, dass sich Hoppe nicht so einfach in diese Tradition einreihen lässt. Ihre spezifische Komik wird in die Nähe der Entlarvung von Rezeption und Figuren gestellt, auch wenn sie doch weitgehend unerklärt bleibt.
Der dritte Text behandelt Dinge, deren exponierte Funktion als Bildgeber und Speichermedien Pia Schüler untersucht. Konkrete Dinge werden fortwährend von der Handlung auf die discours-Ebene verschoben: „Handlung wird nicht auserzählt, sondern durch metonymische Verschiebungen in uneigentlichen Bildern veranschaulicht.“ Dinge fokalisieren Wissen über die Figuren. „Diese Erzählweise spiegelt zugleich die Art der Beschäftigung, die lange schon für den Nibelungenstoff typisch ist: diskursorientiert, mit Blick auf spezifische Aspekte, wie Forschungsbeiträge, die zu einem Thema oder Gegenstand relevante Beispiele aus den Texten herausgreifen […].“ Das Wort „lange“ scheint mir in Hinblick auf die Rezeption seit 1755 unscharf, aber insofern Hoppe eben auch der Gegenwartsrezeption angehört, ist dieser Hinweis durchaus erhellend.
Maline Kotetzki vergleicht die Rezeption Hoppes in Feuilleton und sozialen Medien. Im Vergleich zu der oben skizzierten Begeisterung in der traditionellen Literaturkritik wurde das Nibelungenbuch in den sozialen Medien wenig zur Kenntnis genommen: „Insgesamt überwiegt Ratlosigkeit, die sich sowohl aus der inhaltlichen Umsetzung als auch der Figurenzeichnung und der Form speist.“ Die Ratlosigkeit wird mit dem Eindruck erklärt, dass man das Nibelungenlied vorab kennen müsste, Hoppes Text also exkludierend wirke, wenn man sich mit der Stofftradition nicht auskenne. Dieser Befund zeigt, was man in dem Buch sucht, und die Enttäuschung darüber wird der kulturellen Teilhabe angelastet. Gleichwohl wäre dieser Befund weiterzudenken, denn, wenn ich es recht sehe, ist Überforderung und Voraussetzungsreichtum ein Zug der allermeisten Nibelungenrezeptionszeugnisse.
Eine „Hydrosemantik“ will Sebastian Holtzhauer in Hoppes „fluidem“ Erzählen identifizieren. Ein „basaler Baustein der Hoppe’schen Poetologie“ besteht darin, sich durchgängig mit Flüssen oder anderen Gewässern zu befassen. Er macht das poetologische Potenzial des Wassers als Schlüssel zum Textverständnis aus und versteigt sich gar zu der Behauptung, man könne zu Wasser von Rhone zu Rhein gelangen, was aufgrund der geringen Flusstiefe in Leuk höchstens mit einem Gummiboot der Fall sein dürfte. „Figuren, Autorin und Erzähler sitzen also in einem Boot.“ Immerhin kann Holtzhauer das seltsame Cover des Bandes erklären (es handelt sich um Kupferstiche von Worms und Wien).
Der Beitrag von Martin Baisch fragt (teilweise wortgleich mit dem Einleitungstext) nach der Faszinationskraft des Stoffs in den 2020er-Jahren. Er macht eine unglückliche Verquickung von Autorschaft mit einer Universität, die nicht mehr ganz vom Literaturbetrieb zu trennen ist, aus:
Wo der oder die Leser*in in der Rezeption verzweifelt oder ermüdet, weil sich das Werk absichtsvoll leichter Zugänglichkeit und Verstehbarkeit entzieht, erfährt der oder die universitär ausgebildete Hoppe-Forscher*in schnell Selbstanerkennung über die sich rasch einstellenden, passgenauen methodischen Einfälle. An beidem hat Felicitas Hoppe nicht wenig Anteil.
In der Tat beginnt Hoppes Selbstdeutung schon vor der Publikation ihres Nibelungenbuches, etwa bei der Augsburger Poetikvorlesung. Der etwas exkursreiche Beitrag ist besonders dort gelungen, wo er sich zu einer Bewertung des Vorgangs durchringt. Zuletzt weist Baisch darauf hin, dass all die Stücke der jüngsten Zeit „von Steuergeldern bezahlt worden sind“ und dass „diese Formen der Subventionierung und Ökonomisierung“ womöglich ungeeignet dazu sind, „den Schatz der Nibelungen zu heben, wenn er denn gegenwärtig den Charakter eines Abenteuers im poetologischen Sinne Hoppes besitzt“ – kurzerhand ausblendend, dass eigentlich jede Form von Kultur in der Geschichte auf die eine oder andere Weise „von Steuergeldern“ bezahlt worden ist, sei es durch Fürsten-Mäzene oder im werbefinanzierten Privatfernsehen, das sich durch gezielten Konsum refinanziert (aber auch nicht ohne öffentliche Filmförderung auskommt).
Der Band wird beschlossen durch Andrea Siebers Vergleich der Buch-Zwischentitel mit denen von Fritz Langs Stummfilm. Hoppe nutzt die Texttafeln „vor allem auch als Impulsgeber für eine über die erzählte Handlung hinausgehende metareflexive Rezeptionslenkung“. Dabei simuliert sie „ein raffiniertes mediales Changieren“, indem sie einen literarischen Text mit zahlreichen (teils trans-)medialen Prätexten komponiert.
Die acht Beiträge zeigen sich dort am stärksten, wo sie Textstrategien erklären. Doch bringen die vielen Beobachtungen zum Text den Stummfilm näher? Die Aufsätze gehen von unterschiedlichen, wenig aufeinander abgestimmten Perspektiven aus. Zumindest teilweise kehren Argumentationsmuster wieder: Mehrfach wird die Konstruktion von Sperrigkeit in den Blick genommen. Ferner wird auf die latente Gefahr hingewiesen, wegen der Ununterscheidbarkeit von Autorin/Erzählerstimme und Figuren die außerliterarische Selbstdeutung der Autorin anzueignen. Ein Kern der Deutung besteht in dem von mehreren Seiten thematisierten Schatz, der wahlweise als Tradition oder als ‚Gehalt‘ verstanden wird.
Hoppe, darauf wird man sich verständigen können, interessiert sich für die belastete Tradition und fragt danach, wie es Schüler formuliert, „wie man überhaupt noch von den Nibelungen erzählen kann“. Mit Gewinn hätte man Hoppe im Rahmen der jüngsten Nibelungenproduktionen verortet, etwa weil das Motiv des Schatzes dort mehrfach aufgegriffen wurde (so bei Helmut Krausser oder Moritz Rinke). Als Konferenzschrift ist von dem Sammelband nicht der systematische Ansatz zu erwarten, den man sich zur Erklärung Hoppes wünscht. Womöglich ist es angemessener, dem Text nicht mit einem einzigen, sondern mit verschiedenen, unverbundenen Perspektiven zu begegnen, wenn auch unbefriedigender. Hoppes Text bleibt trotz der Lektüre der Aufsätze schwer zu greifen. Doch für die Erste Hilfe bin ich dankbar.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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