Liebesglut und Weltuntergang
Theodora Bauers „Glühen“ brilliert auf den Spuren Arthur Schnitzlers
Von Annette van den Bergh
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Ich bin ein Dichter für Schwindelfreie“, sagte Arthur Schnitzler über sich selbst. Der Autor des Wiener Fin de Siècle beschrieb die Dekadenz seiner Generation, ihren Tanz auf dem Vulkan, deren Mitglieder das kommende Unheil ahnten. Er schrieb über die Verzweiflung einer überkommenen Gesellschaft, ihre Träume, Sehnsüchte und Ablenkungen. Er schrieb auch, immer wieder, über die eingeübten Rollenspiele in der sexuellen Begegnung, die darin aufglimmenden Machtspiele und Wünsche, die dann meist ausweglos in ein noch größeres Korsett hineinführten.
Theodora Bauer wandelt in ihrem 120 Seiten langen Roman, der formal allen Kriterien einer großen Novelle entspricht, souverän auf Schnitzlers Spuren und erweist sich als weibliches Pendant der Gegenwart, als wahrhaftige Dichterin für schwindelfreie Leser und Leserinnen. Die vierunddreißigjährige, mehrfach ausgezeichnete Österreicherin hat nun erstmals im deutschen Rowohlt Berlin Verlag veröffentlicht, nachdem ihre beiden Vorgänger-Romane im Wiener Picus Verlag erschienen sind. Sie zeichnet in Glühen ein nahezu apokalyptisches Grundgefühl der heutigen Generation, eine chronische Überforderung angesichts täglich auf das Individuum einprasselnder Schreckensmeldungen, bei gleichzeitig scheinbarem Fortschritt der Gesellschaft.
Natürlich hatte Schnitzler nichts wissen können. Schnitzler war kein Prophet. Aber trotzdem steckte es so dick in seinen Texten, so unübersehbar hinter jedem Satz – dass das doch alles absurd war, dass es so nicht weitergehen konnte, dass man ein vollbekleidetes Theater aufführte und es dann im nackten Zustand weiterspann.
Die das denkt ist Elisabeth Maria Weinhager, Protagonistin in Bauers Geschichte, deren subjektive Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühle und Träume – wenngleich in der 3. Person Singular geschildert – das einzige sind, das während der Lektüre tiefer und tiefer in eine vollkommen uneindeutige Liebes- und Verzweiflungsgeschichte hineinführen. Elisabeth Maria lebt in Wien als Literaturwissenschaftlerin, beschäftigt sich mit Inbrunst mit Schnitzlers Werk, vornehmlich mit seiner Schilderung von Sexualität und Begehren und publiziert darüber in wissenschaftlichen Blättern zumeist unter ferner liefen. Sie lebt und spürt sich weitgehend in literarischen Texten, fühlt sich müde, unsicher und ausgelaugt und will ihrer Stadt mitsamt der Arbeit an der literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität entfliehen, um etwas Eigentliches in sich wiederzufinden. So fährt sie zur „Sommerfrische“ in ein abgelegenes, österreichisches Bergdorf, in dem sie sich eine Rückbesinnung auf die pure Natur im Außen und im eigenen Innen erhofft.
Sie dachte an die Porzellanfuhren, an diesen wundervollen Begriff, und daran, dass man gerade am Höhepunkt der Zivilisation am heftigsten nach dem Tierischen gräbt. Weil es einem abgeht oder, besser noch, weil man testen will, wie sehr es wirklich gebändigt ist. Es rumort schon, tatzt gegen die Gitterstäbe. Irgendwas brodelt im eigenen Inneren. Ob es auskommen könnte? Und dann? Vielleicht einmal nicht absperren. Nur schauen.
Es ist natürlich kein Zufall, dass die verlassen am Waldrand stehende Pension aus dem Jahre 1862 stammt, dem Geburtsjahr des Wiener Dramatikers Schnitzler. Und es ist ganz selbstverständlich ebenfalls kein Zufall, dass die Protagonistin, die sich nun einfach nur Lima nennt, in diesem mythisch anmutenden Dorf geradewegs in eine Liebesgeschichte hineingerät, die durchaus Schnitzlersches Beiwerk trägt. Ja, mehr noch, Theodora Bauer lässt ihre Heldin Lima selbst nicht mehr so genau wissen, was an den Erlebnissen in dieser Bergwelt Realität, Literatur, Traum oder Wunschdenken ist oder nur einer übersensibilisierten, verzerrten Wahrnehmung entspringt.
An Glühen versengt sich jeder die Finger, der glaubt, dieser Lektüre eine eindeutige und allein stimmige Interpretation abringen zu können. Und so fällt die Leserschaft, gemeinsam mit Lima, ins Bodenlose hinein, in berauschende Schönheit, in die Glut der Gefühle, in überbordende Sinnlichkeit, immer durchzogen vom Ton einer stärker werdenden und am Ende alles mit sich reißenden Bedrohung. Alles hängt hier mit allem zusammen, die Zeiten fließen ineinander, die Personen, Tiere, ja, selbst der Wald, entsprechen Archetypen, könnten aus Mythologie und Märchen entlehnt oder eben auch nur fantasiert worden sein, um dann doch immer wieder der Vernunft und der Wirklichkeit Platz einzuräumen. Als roter Faden hinzugegeben, liest sich Glühen auch als eine vielschichtige Reflektion zu Rezeption und Kreation von Literatur.
Sie wollte den Wald. Sie wollte die Ruhe. Sie hatte sich in eine Welt hineingeträumt, der die jeweils nächste Katastrophe noch bevorstand, die ihr als Leserin aber schon bekannt war, in der sie mehr wusste als die Menschen, die durch die Geschichten wuselten. Das war beruhigend. Das Schreckliche zwar als kommend lesen, aber vergangen wissen. War es nicht ähnlich gewesen wie heute?
Theodora Bauer kennt als Autorin selbstredend von Beginn an das Ende ihres Buchs, nur so lässt sich im Nachhinein manch eigentümliche Rede der handelnden Personen verstehen. Für Heutige liest sich die im Text heraufbeschworene Katastrophe allerdings äußerst bedrohlich und beängstigend: Da das angedeutete Szenarium eines Kippens von Welt und Natur in ein Verhängnisvolles hinein stark an das erinnert, das man derzeit durch die Nachrichtenlage allerorten an sich herangetragen bekommt. Die Leser erleben sich folglich als Zeugen einer Krise, deren Ende noch aussteht. Diese Verunsicherung lässt die Welt bröckeln, verhindert das Finden von feststehenden Sicherheiten. So wie es den Lesenden ergeht, so ergeht es auch Lima. Deren Tagträume, inspiriert durch Schnitzler und Co., verschwimmen mit den Träumen der Nacht, die sich mit der verdrängten Bedrängnis durch eine drohende Apokalypse auseinandersetzen.
Doch vor dem Ende, das die Menschheit in die Knie zwingen will, möchte man doch bitte noch etwas erleben dürfen, etwas lohnendes, etwas wie ungekünstelte Liebe und alles durchleuchtende Leidenschaft etwa. So folgt man Lima bereitwillig in die Liebesgeschichte hinein, die sich mit der aufscheinenden Gestalt des schönen Michael auftut, dieser an einen Engel und den Sensenmann gleichermaßen erinnernden Figur. Mit den kryptischen Worten „Bist du eh nicht gestorben“, spricht der junge Mann Lima an, die diesen betrachtet wie eine Fata Morgana, eine Erscheinung, die mit Pferd und Heuwagen geradewegs aus einer Schnitzler-Novelle zu ihr hinübergesprungen zu sein scheint. Doch egal ob Traum, ob Wirklichkeit, die beiden begegnen sich immer wieder auf Limas Wanderungen zum Berggipfel, die entlang des Waldes führen, oft begleitet von einem mephistophelischen Pudel. Zögerlich zunächst, dann aktiv und schließlich drängend, lässt sich die Protagonistin auf ihr eigenes Begehren und die entfachten Sehnsüchte ein.
Vor der Kulisse einer etwas zu grell scheinenden Sonne und großer Trockenheit in der Natur, entfalten sich Passagen von unerhörter Schönheit und an Paradiese erinnernden Anmut. Das Begehren einer Frau, das Lima bis dato nur ungenügend von Männern in Stereotypen beschrieben las, findet hier einen neuen Ausdruck, ohne Scham doch mit großem Respekt, sowohl vor dem Objekt der Begierde – also Michael – als auch dem berauschten Subjekt, das hier die Frau ist. Und so wie Arthur Schnitzler das in seinem berühmt-berüchtigten Reigen tat, lässt auch Theodora Bauer eine Lücke, wo Explizites zu erwarten wäre.
Eines Tages ist Michael nicht mehr da. Das wohlige Flirren, das zunehmende Glühen, das Lima als Befreiung und Wohltat im Miteinander erlebte, wird zur quälenden Glut, zur Feuersbrunst aus Verzweiflung und Einsamkeit. Auch im Außen zeigen sich ernste Verfallserscheinungen einer überstrapazierten Natur, von „Waldbränden“ ist bald die Rede, die sich dem Dorf nähern. Auch hier sind wieder, bei aller beängstigenden Aktualität, Bezüge zu literarischen Traditionen der Schilderung von Naturgewalt als Spiegel menschlicher Gefühlswelt erkennbar.
Lima war durchaus bewusst, was eine gute Geschichte kann: Manchmal entrückt sie. Das Ende hat eine wunderbare, eine schicksalhafte Dramaturgie, der wir nicht entrinnen können. Wir genießen dieses Ende aus der Ferne. Gerade weil es so große Leinwände braucht in unserem Kopf, wirkt es unendlich fremd. Es ereignet sich auf einem anderen Planeten, auf dem andere Gesetze gelten als hier. Hier gelten die Gesetze von jetzt, jetzt und jetzt.
Ein entgrenztes Empfinden verschluckt Limas vergangenes, papiernes Leben und ihre alte, abgestorbenen Daseinsform. Sie wählt das Feuer.
Die Rezensentin las Glühen, während die Nachrichten in Radio, TV und Zeitung erschüttert vom großen Unwetter in Spanien berichteten, dieser Vernichtung und Zerstörung durch nicht zu bändigende Wassermassen. In der komprimierten Form des schmalen Buchs rücken die Ängste unserer Zeit in eine kaum zu ertragende Nähe zum Leser, entsteht eine Dringlichkeit, die diesen glühend durchfährt, in eine Unmittelbarkeit des Erlebens stellt, die jede Distanz zum Gelesenen aufbrechen lässt. Theodora Bauer ist ein wunderbares Buch gelungen, das lange nachwirkt, gefangen nimmt, auch dann noch, wenn der letzte Satz gelesen ist, der vorwärts in den Alltag sowie rückwärts zu den Träumen führt: „Dann schlief sie ein“.
|
||