Oskar Panizza – Staatskritiker und moderner Literat
Ein neuer Sammelband stellt den ‚intellektuellen Panizza‘ heraus
Von Martin Lowsky
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseOskar Panizza (1853–1921), promovierter Mediziner, großer Satiriker und Kulturkritiker und schließlich, 16 Jahre lang, unproduktiver Heiminsasse, hatte eine faszinierende Schaffensbreite. Er war, wie man heute sagen würde, ein Wutbürger mit humoristischem Einschlag und mit scharfem Intellekt. Berühmt wurde er durch sein Drama Das Liebeskonzil, das im Jahre 1495 spielt und drastisch die sexuellen Praktiken im Palast des Papstes vorführt. Der jetzt erschienene Sammelband über Panizza behandelt einzelne Werke und bringt auch knapp Panizza als Dramatiker zur Sprache: Das Liebeskonzil sei nicht eigentlich religionskritisch, sondern leite die Menschen dazu an, der Religion zu entkommen. Aber leider bleibt die faszinierende Vielseitigkeit Panizzas verborgen. Im Mittelpunkt des Bandes steht der Intellektuelle Panizza.
Und zwar geht es einerseits um den ‚Ästheten‘ Panizza, andererseits um seine Staats- und Gesellschaftskritik. Man kann die Kernaussagen des Bandes in den Worten von Gal Hertz so resümieren: „Obwohl Panizza ein Kritiker der Moderne war, trug er gleichzeitig zur Entwicklung der modernen Literatur und Kunst bei.“ Und: Panizza greift den Staat und seine Institutionen „aus einer kritisch-psychiatrischen Perspektive“ an. Im Folgenden Genaueres.
Zu den Beiträgen (von Dietmar Schmidt und Elena Meilicke) über den Ästheten Panizza! In seinem Essay Das Wachsfigurenkabinett über einen Jahrmarktjux, der das Leiden Christi nachspielt und Tumulte der Zuschauer auslöst, lege Panizza dar, wie realistisch-präzise das gespielte Geschehen ist, das doch beliebig an- und ausgestellt werden kann und eben dadurch die hingebungsvollen Zuschauer überfordert. So nehme Panizza in polemischer Schärfe das Erlebnis des damals noch nicht existierenden Kinos vorweg. In seiner Streitschrift Imperjalja wagt Panizza eine Kollage aus Verbrechensmeldungen und entsprechenden Fotos aus Zeitungen, so dass sich „eine massenhafte und heterogene Anhäufung von Einzelfällen“ ergibt, die den Text fast unlesbar macht. Interessant für uns heute ist die darin enthaltene Verschwörungstheorie – Kaiser Wilhelm II. sei der Verursacher all der schlimmen Dinge – sowie überhaupt das kühne, keineswegs fälschungssichere Ineinander von „Tatsachenprosa“ und fotografischer Bilderfülle.
Zu all dem passt ein hier als Faksimile vorgelegter und gründlich (von Joela Jacobs) erläuterter fiktiver Brief, den Panizza einen Amerikaner namens John D. Rockefeller schreiben lässt: Dieser zahlungskräftige Mann wünscht für sein Land das Eindringen von mehr deutschsprachiger Kunst, wie es schon die Tiroler Sänger der ‚Rainer Family‘ (um 1830) vorgemacht haben. Eine Satire auf die weltweite Käuflichkeit der Kunst und der Dichter!
Nun zu den Beiträgen (von Manuel Förderer, Birgit Ziener und Gal Hertz, dem Jerusalemer Kulturwissenschaftler), die Panizzas Staatskritik behandeln. Panizza interessierte sich sehr für den Spiritismus, den er trotz einiger Vorbehalte als wissenschaftliches Betätigungsfeld ansah; so in seinen Schriften Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit und Die gelbe Kröte 1894/95. Der Spiritismus horche auf die ‚inneren Stimmen‘ in uns, und diese bezeugen Wahrheitsdrang und zugleich Fantasie und zeigen die Verdrängungsleistungen unserer Psyche – ein Gedanke, der die Aufmerksamkeit lenkt auf „das unausgesprochene Leiden der Unterdrückung und der Gewalt an Menschen“. Viel stärker als dem ungefähr gleich alten Sigmund Freud stand Panizza, wie er sagte, „die fisische Welt des Schlagens und Geschlagen-Werdens“ vor Augen. In seinem Werk Psichopatia criminalis geht Panizza von der damals gängigen Vorstellung aus, der Verbrecher sei ein degenerierter Mensch. Doch in radikaler Weise verstand Panizza dieses ‚degeneriert‘ nicht als ‚erblich krank‘, sondern als ‚von den Umständen aufrührerisch gemacht‘. Die Degeneration sei das Bestreben des Einzelnen, der „unterdrückenden Macht des Staates“ zu widerstehen. So gesehen, und das ist keineswegs satirisch gemeint, ist die Kriminalität eine politische Handlung.
Wir haben anfangs vom ‚Intellektuellen Panizza‘ gesprochen. Diesen – so lässt sich resümierend sagen – arbeitet der Band heraus, genauer: diesen „hochkomplexen Intellektuellen“ (wie Thomas Röske in seinem Beitrag über den Zeichner Panizza sagt). Der Band besticht dabei durch seine tiefgründigen, sorgfältig argumentierenden Beiträge. Er enthält auch eine umfangreiche Bibliografie (die leider die neue 10-bändige Werkausgabe, erschienen bei Emig in Niederstetten, nur ganz pauschal vorstellt) sowie eine gründliche tabellarische Darstellung von Panizzas Leben.
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