Von Blinden- und Bananentexten: Die Verteidigung des Unverständlichen
Michael Lentz versucht, dem Kulturphänomen Grönemeyer musikalisch auf den Grund zu gehen
Von Stephan Wolting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer am Leipziger Literaturinstitut als Professor für Literarisches Schreiben lehrende Schriftsteller, „Lautkünstler” und Drehbuchautor Michael Lentz legt ein neues Werk vor, in dem er sich dem in Deutschland sehr populären Sänger und Musiker Herbert Grönemeyer nähert, der in der Bundesrepublik einfach Grönemeyer ist und dort als ein besonderes Phänomen für „deutsche Mentalitätsgeschichte” gilt. Die Bedeutung von Grönemeyer bemisst sich nicht zuletzt daran, dass er kürzlich den beiden Kanzler-Kandidaten Friedrich Merz von der CDU wie Robert Habeck von Bündnis 90/Den Grünen verbot, den zum Fußball-Sommermärchen 2006 geschriebenen Song Zeit, dass sich was dreht für Wahlkampfzwecke zu nutzen. Im Werk wird zudem darauf hingewiesen, dass die CDU-Regierung unter Helmut Kohl Grönemeyers Werk in den 89er Jahren noch als „Unkultur” bezeichnete und die Goethe-Institute weltweit anwies, ihn im Ausland nicht mehr zu spielen, eine Forderung, die aber niemals eingelöst wurde. Bereits 2003 war eine erste Biographie von Ulrich Hoffmann Grönemeyer über den Musiker erschienen, die allerdings nicht die besten Kritiken erhielt und der Sänger zeitweilig sogar rechtliche Schritte dagegen zu unternehmen gedachte.
Inhaltlich weist das hier zur Besprechung vorliegende Werk kaum eine Verbindung zu früheren Werken von Lentz wie Pazific Exil auf, womit er 2007 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, Muttersterben oder Schattenfroh. Ein Requiem unter anderem, wo es jeweils um den Tod seiner Eltern geht. Wie bei diesen Werken sticht auch bei diesem Band der beträchtliche Seitenumfang hervor. Zudem macht das Werk schon aufgrund des Einbands in knalligem Rot und der goldene Schriftzug des Namens besonderen Eindruck. Wie geht Lentz nun bei seiner Annäherung an Grönemeyer vor? Vorausschickend lässt sich sagen, dass Autor und Sänger seit vielen Jahren gut befreundet sind, ja, dass sie einige Musik- und Sprechperformances gemeinsam durchführten.
Von daher war bei dem Werk eine Art kongeniales Nachvollziehen der Kunst Grönemeyers zu erwarten, und Leser*in werden in dieser Hinsicht tatsächlich nicht enttäuscht. Lentz verzichtet dabei auf die spektakuläre Schilderung biographischer Ereignisse aus dem Leben des Sängers. Selbst bei der Erwähnung des Todes seiner Frau Anna und des vier Tage darauf erfolgten Tod des ältesten Bruders geht der Autor beinahe „sachlich“ vor. Lentz setzt also ganz auf eine Werkbiographie, die Hilmar Klute in der SZ als eigenständige Gattung bezeichnet. Marie Schoeß spricht im Deutschlandfunk davon, dass hier ein Künstler über einen Künstler schreibt. Für sie ist es deshalb ein Buch über Kunstproduktion. Lentz setzt derart auf das Musikalische und Kompositorische, dass das Buch musikalisch nicht so vorgebildete Leser*in überfordert, etwa wo es heißt: „Die achtaktige ‚Oh‘ Vokalise, die nach der vierten Strophe den Refrain von seiner Wiederholung trennt, setzt in aufsteigender und absteigender Linie jenes ‚oh‘ genau auf den Beat (viermal oh je Takt). Das im Lied hinterfragte beschworene Mitkriegen erfährt hier, so konnte die Passage gehört werden, ein zugleich persiflierendes Einhämmern als Kür zur Pflicht der nächsten Strophen (…).“
Und so geht es weiter über viele Seiten. Der Autor hat sich derart in das Werk des Sängers „verbissen“, dass er den Eindruck vermittelt, bei der musikalischen Genese vieler Songs dabei gewesen zu sein. Darüber hinaus erfährt die Leserschaft durchaus interessante Details aus Grönemeyers Leben, etwa über seine Herkunft aus Bochum(auch wenn er in Göttingen geboren ist, aber die Eltern schon mit einem Jahr nach Bochum zogen, oder dass seine Mutter einer baltendeutschen Familie entstammt), über die besondere Beziehung zu dieser Stadt, obwohl Grönemeyer schon mehr als 40 Jahre woanders, vor allem in London lebt (zugleich auch in Berlin lebt und vorher in Hamburg lebte).
Anschaulich wird Grönemeyers beruflicher Werdegang geschildert, dass er offenbar der Mensch ist, um mit dem Titel eines seiner Alben zu sprechen, was der Autor für den Höhepunkt der deutschsprachigen Popgeschichte hält, der zur rechten Zeit am rechten Ort ist.
Bereits in Bochum arbeitet er mit bedeutenden Künstler*innen und Regisseur*innen der damaligen Zeit wie zum Beispiel Peter Zadek oder Pina Bausch zusammen, und reussiert sowohl im schauspielerischen Bereich, worin er sich allenfalls als „mittelmäßig“ empfindet, und eben in der Musik, wo er von Anfang an hin will. Diese Zwischenstellung zeichnet ihn später, aber vor allem seine Anfänge aus, als er zunächst als Pianist, und dann als Schauspieler am Bochumer Schauspielhaus arbeitet, und danach vor allem durch den Film Das Boot, der Verfilmung des Romans von Lothar-Günther Buchheim, aber auch durch die Verfilmung der Robert-Schumann-Biographie Frühlingssinfonie, bekannt wird.
Anhand seines beruflichen Werdegangs zeigt sich exemplarisch, was in Bochum damals möglich war und wie sich diese Stadt nach dem Ende des Bergbaus künstlerisch zur spannendsten Stadt des Ruhrgebiets entwickeln konnte. Grönemeyer „stiftet“ die Bedeutung der Stadt gleichsam mit seinem Album Bochum mit, dessen berühmter Song mit dem Refrain „Bochum, ich komm aus dir“ heute noch bei jedem Heimspiel des VFL Bochum, dessen Mitglied er seit 2007 ist, gespielt wird. Zudem wurde gerade bekannt, dass das Ruhrgebiet mit einem leicht abgewandelten Grönemeyer- Zitat für sich werden will: „Hier bleibt alles anders.“
Die ersten fünf Kapitel behandeln Stationen von Grönemeyers Werdegang, Kapitel sechs bis zehn gehen direkt auf seine Musik ein, und die restlichen Kapitel bis 14 markieren besondere Motive im Werk. Zu den „Spitzfindigkeiten der Komposition“, an denen auch Hilmar Klute irgendwann scheitert, wie er bekennt, mag sich Leser*in selbst ein Urteil bilden. Hierhin kann Lentz der Rezensent, der selbst Instrumente spielt und sich in Harmonielehre gut auskennt, nur bedingt folgen. Interessanter für die in musikalischen Dingen weniger bewanderte Leserschaft erscheint die fruchtbare Synthese seines Londoner (und Berliner) Wohnorts und seiner deutschen Revier-Herkunft bedeutsam, dessen Gegensatz in einer Art „Kulturwitz“ beschrieben wird:
Die Deutschen seien vielfach in Wäldern groß geworden. Weil ihr Blick den dichten Baumbewuchs nicht durchdringen konnte und so im Wald gefangen gewesen war, richtete er sich nach innen, schaute das Imaginäre an und wurde aus der analytischen Selbstreflexion heraus philosophisch. Der Wald sei also die Geburtsstätte der deutschen Philosophiegeschichte. Die Engländer lebten auf einer Insel und seien also auch eine Insel. Sie seien immer an die Küste gegangen, um herauszufinden, was da hinten eigentlich los sei und wo man da denn mal hinfahren könne. Die Bewegung des Blicks der Engländer, so die Geschichte über die kulturellen Unterschiede, sei von sich weggegangen und hätte die Welt außen vorgefunden, während die Deutschen sie in sich selbst suchten.
Auch wenn der Aufbau der Kapitel durchaus Kindheit, berufliche Entwicklung, politisches Engagement miteinbezieht, so ist doch der Großteil des Werks der musikalischen wie sprachlichen Analyse gewidmet, insbesondere der Frage, inwieweit die Undeutlichkeit Grönemeyerscher Aussprache in Bezug auf das Verhältnis von Sprache und Musik gewollt ist, ja mehr noch, als Kunstfertigkeit zu verstehen ist. Dabei kommt ihm seine britische Wahlheimat und seine Vorliebe für englische Musik, etwas überspitzt ausgedrückt, starke musikalische und kulturelle Anpassung an die englische Kultur, zu Hilfe. Über viele Seiten wird die Beziehung von Stimme und musikalischer Performation entfaltet, fokussiert auf die beiden Begriffe „Blinden- und Bananentexte“. Dabei wird immer wieder der für Grönemeyer charakteristische Vorrang des Musikalischen vor dem Wort ausgebreitet, die englisch phonetisch notierten Zwischentexte, die er Bananentexte nennt:
Sind die Lieder eingespielt, schreibt Herbert Grönemeyer in einer Vielzahl von Strophen und Fassungen die von ihm so genannten deutschsprachigen „Blindtexte“, die mit den Bananentexten eine atmosphärische und zum Teil auch schon motivische Verbundenheit haben. Aus den Blindentexten als Steigbügelhaltern oder Vorstufen gehen die deutschsprachigen Texte hervor, die nach mehreren Erprobungs- und Korrekturphasen zuweilen erst beim Einsingen im Studio ihre finale Fassung erhalten.
Über viele Seiten wird die Beziehung von Songtext und Gedicht diskutiert, wobei Grönemeyer selbst immer betont hat, dass er keine Gedichte schreiben würde. An manchen Stellen vermittelt der Text den Eindruck eines Sachbuchs oder eines sehr genau recherchierten Werks der Sekundarliteratur. Die Analysen muss man dem Autor dann einfach glauben, weil man sich als Leser*in, es sei denn man sei absolut vom Fach, in den Text kaum so tief einarbeiten kann. Das ist zugleich die Stärke wie die Schwäche des Werks: Auf der einen Seite ist man fasziniert mit welchem musik- und literaturwissenschaftlichen formalen Werkzeug sich der Autor dem Werk nähert, und durchaus dabei neue Erkenntnisse zutage fördert. Auf der anderen Seite ist dem Leser durch die übergroße fachliche Autorität des Autors fast jeder Einspruch oder jedes Mitdenken genommen, also genau das, was Lentz eigentlich als Stärke guter Literatur oder Kunst bezeichnet:
Der Hörerin und dem Hörer muss die Gelegenheit gegeben werden, mit zerstreuter, selbstbezogener Aufmerksamkeit zuzuhören. Die schönsten Momente im Kino sind die, wo man bei Betrachten eines Films feststellt, über etwas nachzudenken, über das man schon lange nicht mehr nachgedacht hat, und der Film gibt einem den Raum dazu. Man denkt mit dem Film nicht über den Film nach. Kunst ist auch dafür da, dass sie einem die Gelegenheit gibt, durch ihre Intensität abzuschweifen, wegzudriften, zu sich selbst zu kommen.
Besonders gelungen erscheinen die Ausführungen zur Stimme, in Bezug auf Roland Barthes zur Rauhen Stimme. Vor allem daran wird noch einmal, die Absage an jedes klassische Schönheitsideal deutlich, wie der Autor betont, und dass Grönemeyer in seiner Kunst, die Widersprüche menschlicher Existenz nicht nur betont, sondern auch formalästhetisch umsetzt, was nochmal in den letzten Kapiteln Auf Deutsch, Über die Liebe und Pop und Politik deutlich wird. Mit einem Ausblick auf das Streamingverfahren in der Musik und Musikgeschichte als Mediengeschichte und der nochmaligen Betonung der Unabhängigkeit der Kunst Grönemeyers klingt das Werk aus, das unter Beachtung der erwähnten Schwachstellen durchaus zu empfehlen ist. Was sich der Rezensent vielleicht zusätzlich gewünscht hätte, wäre, den Sänger etwas mehr in Beziehung zu anderen Künstlern aus dem deutschsprachigen Raum wie Konstantin Wecker etc. zu setzen, aber auch darüber hinaus. Charles Aznavour, Randy Newman, Bob Dylan und einige andere werden erwähnt. Es sei aus interkultureller Sicht vielleicht abschließend noch die phänomenologische Frage erlaubt, inwieweit die Musik Grönemeyers ein mit Wagner beginnendes Phänomen der „Disharmonie“ innerhalb der deutschen Musikgeschichte weiterführt. Die vielfältigen Bezüge des Werks Grönemeyers zu anderen Musikrichtungen sind durchaus eingehend erwähnt worden.
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