Ein abgedankter König ohne Krone auf fulminantem Roadtrip zu Pferde

Arno Geiger hat mit „Reise nach Laredo“ einen fesselnden historischen Roman geschrieben

Von Armin KönigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin König

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für ein Roman! Arno Geigers Reise nach Laredo ist eine Wucht.

Man schreibt das Jahr 1558. Einer der Mächtigsten der damaligen Welt, Ex-König und Ex-Kaiser Karl V, Herrscher des Heiligen Römischen Reiches, hat 58-jährig seine Kronen abgelegt und sich nach dem Rücktritt von allen Ämtern zurückgezogen in die spanische Einöde nach Yuste. Er will erfahren, was für ein Mensch er ohne Krone und Macht war und ist. Und so – als Menschlein ohne Macht – will er sich vor Gott verantworten. Das historische Vorbild wird sehr frei ausgedeutet und prosaisch umgedichtet. Karl hat keine Ahnung, was ihn in Yuste in seiner neuen Heimstatt, einer alten Villa, erwartet. 47 dienstbare Menschen müssen mit ihm in die Einöde in der Nähe eines alten Klosters ziehen, abgeschnitten von allem, was ihnen wichtig ist. Was sie erfahren, ist nicht Freiheit, sondern Langeweile mit Beten, Beichten und Warten auf das Ende. Die „Gleichförmigkeit der Tage, die träge dahintrotten – wie Wanderer, die sich innerlich schon aufgegeben haben“, ödet ihn an. „Er dem auf Erden ungeheure Macht gegeben war wie keinem seit Dschingis Khan, ist den ganzen Tag mürrisch auf hilflose Art.“ Immerhin sagt ihm sein Beichtvater Juan Regla, „in jedem Menschen stecke ein zurückgetretener König, in jeder Wäscherin stecke eine zurückgetretene Königin, deshalb seien die Menschen so mürrisch.“

Karl leidet aber auch an sich und der Welt, körperlich und seelisch. Weil ihm langweilig ist und weil er das Gefühl braucht, weiterhin er selbst zu sein, frisst und trinkt er. Das schildert Geiger sehr barock-deftig. Karl fiebert, hat Gicht, Schmerzen, er stinkt, und deshalb will er sich nicht mehr pudern lassen, sondern waschen in heißem Wasser, um diesen starken Hautgeruch abstreifen, auch wenn ihm die Ärzte und Gelehrten abraten. Aber nur einer unter ihnen ist tatsächlich offen zu ihm: Fray Regla, der Mönch und Beichtvater, der über Freiheit philosophiert. Sein Name ist ein sprechender: Regla (span.) ist der „Herrscher“. Als Mönch ist er so frei, dem abgetretenen Herrscher die Meinung zu sagen über Freiheit und das Leben und Gott und die Welt. Und weil in der Villa auch ein Wandteppich mit der Abbildung eines Greifs hängt, der für Karl Freiheit symbolisiert, gewinnt diese Idee der Freiheit, die er täglich sieht, auch für den abgedankten König eine neue Bedeutung. Er sehnt sich danach.

Karl stellt fest, dass er einen illegitimen Sohn namens Geronimo hat, und mit diesem naiven kleinen Schüler, der gar nicht weiß, dass er ein Königssohn des Großen Karl ist, büxt er aus dem Wüstenkloster aus, um bald festzustellen, dass das „Linksliegenlassen der Welt eine anspruchsvolle Sache ist“. Das gilt umso mehr für einen Ex-Monarchen, dem die Entourage zuvor jeden Wunsch erfüllt hatte, ob er ihn nun hegte oder nicht. Alles, was er tat und sagte, wurde beobachtet, notiert, fixiert. Schluss damit! Die notierten Erinnerungen hat er ins Feuer geworfen. Karl nimmt sich die Freiheit, sich zu befreien.

Es ist nur ein Fiebertraum, aber er ist ein faszinierend erzählt. In echt kann Karl nicht mehr fliehen, weil er zu fett und zu schwer und zu krank und zu schwach ist. Aber im Traum ist er frei, befreit auch von Fray Regla, dem Beichtvater, und der ganzen Entourage.

Mit einem Esel und seinem Schüler und Knappen Geronimo macht Karl sich nachts aus dem Staub, um incognito die Härte des einfachen Lebens zu erfahren und sich selbst zu erkennen: Als Zauberschütze rettet er zwei Cagots. Die Geschwister Honza und Angelita sind Ausgestoßene, Diskriminierte, Aussätzige. Karl, der König, schießt sie im Stile eines Wildwest-Helden aus der Gewalt von Banditen. Als Underdogs machen sich die vier Outlaws – auch der abgedankte König  ist ohne Krone ein solcher – schließlich mit Karre und Pferden und Esel auf den Weg nach Laredo in Nordspanien. Sie geraten in neue Abenteuer, und Karl lernt kennen, was er trotz Macht, Krone, Reichtum und Weltenruhm bisher nicht kennengelernt hatte: Freundschaft, Liebe und die Freiheit, nur im Hier und Jetzt zu leben. Und er fühlt sich keineswegs schlecht dabei, loszulassen von allen Insignien des Ruhms und der Macht. Dabei ist das einfache Leben keineswegs leicht. Es ist brutal, hart, lebensgefährlich und mit vielen Entbehrungen verbunden.

Es ist die typische Heldenreise zum Ursprung mit gutgläubigem Schüler, zwei treuen Gefährten, die nur ihr Leben haben und einem veritablen Antihelden, der alles Majestätische abgelegt hat. Sie wollen nach Laredo, wo alle Rätsel gelöst oder alle Geheimnisse tiefer werden.

Sie landen in einer Spelunke, wo ihnen der Wirt nachstellt. Karl spielt und säuft, bis er pleite ist, und schließlich gibt ein Falke den Impuls, als mittellose Glückssucher den letzten Weg nach Laredo zu machen – durch unwegsames Gelände zur Erkenntnis bis zum bitteren Ende. Erst kommt Honza zu Toda, dann stirbt Karl als alter, nackter Mann in der Brandung des Meeres, im Traum jedenfalls.

Der Kaiser und König ist nackt. Das ist es doch, was Karl wissen wollte: was für ein Mensch er ohne Krone und Macht vor Gottes Angesicht und vor den Menschen ist. Einer wie wir. Die letzten Getreuen atmen auf, als Karl aus seinem letzten Traum am Vorabend des Todes nicht mehr aufwacht.

Arno Geiger hat ein meisterhaftes, mitreißendes Werk geschrieben, eine Mischung aus Don-Quichotterie, Karl-May-Erzählung, Aventiure-Roman, Traumbuch, Vexierspiel und Roadtrip zu Pferde als Reise zur Erkenntnis. Zugegeben: Kalendersprüche sind auch reingemixt in das Abenteurerbuch. Das tut dem süffig geschriebenen, klassisch erzählten Roman aber keinen Abbruch. Arno Geiger fabuliert die Reise nach Laredo illusionsbrechend, manchmal clownesk, sprachspielerisch, in österreichischer Tradition von Schnitzler bis Konrad Beyer und H.C. Artmann. Es muss ein Traum sein, aber was für einer! Und er endet mit der Erkenntnis, dass wir am Ende alle nackt und machtlos sind – Könige ohne Kleider, alle gleich. 

Titelbild

Arno Geiger: Reise nach Laredo. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2024.
272 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446281189

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