Habent sua fata libelli
Was Bücher bewirken können
Von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim
Rätsel des Lebens. Wie, um Himmels willen, geschieht es, dass ein Buch, ein Artikel, ein Aufsatz zu leben beginnt? Worte, die wir geschrieben haben, trafen auf Menschen wie ein magischer Bumerang, der eben diese Menschen zu uns zurückholt?
Es ist doch so: Wir schreiben ein Buch, einen Aufsatz, eine Kolumne. Der Text wird „publiziert“, dem lesenden Publikum ausgeliefert. Fremde und vertraute Menschen lesen jene Worte und Sätze, die uns Autorin oder Autor in den Sinn kamen, als wir geschrieben haben. Wir haben keine Kontrolle darüber, was unsere Leserschaft mit unseren Gedanken, Einfällen und Formulierungen anfängt. Meistens erfahren wir das nicht, manchmal aber doch.
Bücher haben ihre Schicksale
Der antike Grammatiker Terentianus Maurus prägte gegen Ende des zweiten Jahrhunderts in einem Hexameter eine Idee, die bis heute im angedeuteten Zusammenhang – wenn auch zumeist verkürzt – angeführt wird. Vollständig lautet sie: „Pro captu lectoris sua fata libelli“, was korrekterweise übersetzt werden kann mit: „Je nach Auffassungsgabe des Lesers haben die Büchlein ihre Schicksale.“ Es geht also nicht um die Bücher, sondern um die Leser! Diese Pointe wird sehr oft unterschlagen, wenn nur der Schluss zitiert wird.
Wenn es also um die Leserschaft und nicht um die „Büchlein“ geht, eröffnen sich zwei Lesarten:
Zum einen: Wieviel Sinn kann und will der Leser erfassen, wenn er meinen Text liest? Erkennt er Ironie? Nimmt er wahr, worum es mir als Autor geht? Will er sich darauf einlassen? Kann er das überhaupt? Wie liest er meinen Text, wenn ihn vielleicht schon die Überschrift, der Titel meines Buches abstößt?
Zum anderen: Je nach Zeit und Umständen werden Bücher, Texte unterschiedlich „gelesen“, verstanden und genutzt. Wer käme heute auf den Gedanken, sich nach Beendigung der Lektüre des Briefromans „Die Leiden des jungen Werther“ von Goethe aus dem Jahr 1774 eine Pistolenkugel in den Kopf zu jagen? Die durch das Buch skandalierte „Störung des Ehefriedens“ in der damaligen bürgerlichen Leserschaft regte vermutlich nur diese auf – weder die Unterschichten noch die aristokratische Leserschaft empörten sich über die Maßen, soweit sie überhaupt solche Bücher lasen. Heute berichtet die Seite „Deutschland und die Welt“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung täglich von solchen Geschehnissen, zur Unterhaltung der Leserschaft. Niemand erschießt sich deswegen.
Bleibt jedoch die Wahrheit, dass jedes Buch, jeder Text ein bewegtes Schicksal hat, je nachdem in wessen Hände es gelangt. Am eindrücklichsten hat Umberto Eco das mit seinem Roman Der Name der Rose geschildert: Das Buch teilt das Schicksal seiner Besitzer, am Ende verbrennen Buch und dessen gescheiterte Bewahrer. Und in der Unendlichen Geschichte von Michael Ende ergreift sogar das (gestohlene) Buch Besitz von seinem Leser Bastian Balthasar Bux. Die gelesene Geschichte und die erlebte Gegenwart verschmelzen ineinander.
Aus soziologischer Sicht ist das keine neue Erkenntnis: Texte sind soziale Konstrukte, ebenso wie Theorien, Ideologien oder Religionen, die ihr Eigenleben entwickeln, das weit über die Intentionen ihrer Autoren hinausgeht. Sie können nicht bestimmen, was mit ihren Texten geschieht. Deren ursprüngliche Absichten kann sich ungewollt und ungesteuert sogar in das Gegenteil der ursprünglichen Intentionen verkehren.
Ein Buch zwingt dessen Verfasser zum Weitersuchen
Das Buch Lügen und Scham (Vergangenheitsverlag) hat erheblichen Einfluss auf das Schicksal des Autors dieser Zeilen genommen, indem es dessen weitere literarische und wissenschaftliche Arbeit zu bestimmen begonnen hat. Als das Buch im August 2023 erschien, glaubte sein Autor, dass damit seine Auseinandersetzung mit den Umständen seiner Herkunft, seiner Kindheit und Jugend „abgeschlossen“, beendet sei. Jedoch, als er sich dann mit diesem Buch sehr unterschiedlichen Publika aussetzte, wurde immer deutlicher, dass das eine Selbsttäuschung war. Denn die Fragen der Leserschaft führten den Autor zunehmend drängender über das Geschriebene hinaus: „Was machten Ihre Eltern denn genau beim ,Lebensborn‘? Hatte Ihr Vater mit dem Raub der Kinder aus den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten zu tun? Was machte er in Norwegen? Welche Texte schrieb Ihre Mutter als Sekretärin in der Münchner Verwaltungszentrale dieser verbrecherischen Organisation? Was genau war die Tätigkeitsbeschreibung Ihres Onkels beim ,Rasse- und Siedlungshauptamt‘ der SS in Berlin?“
Der Autor konnte und kann diese Fragen immer noch nicht beantworten. Und seitdem zwingt ihn sein eigenes Buch dazu, diesen Fragen nachzugehen, zum Beispiel durch Anfragen beim Bundesarchiv. Die Suche nach Eltern und Onkel geht weiter.
Ein Buch schickt seine Leser auf eine Mission
Von einigen der Leserschaft von Lügen und Scham ist dem Autor bekannt, dass sie sich nach abgeschlossener Lektüre auf die Suche nach den „braunen Spuren“ in ihrer eigenen Familiengeschichte gemacht haben. Es ist erstaunlich, was Menschen plötzlich in alten, längst vergessenen, vergilbten Unterlagen finden. Und eine Freundin schreibt dann: „jetzt stoße ich in den Briefen meiner Familie auch auf ein Mütterheim.“ Der Autor bekommt Fotos von Briefen zugesandt, in denen der Urgroßvater davon berichtet, dass seine schwangere Tochter einen Platz in einem Heim der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ für die Entbindung sucht. Das war zwar kein Heim des „Lebensborn“, aber in der Zielsetzung durchaus vergleichbar: auch dort durften nur „reinrassige Arierinnen“ reichsweit ihre Kinder zur Welt bringen, auch dort wurden parteipolitische Schulungen durchgeführt. Die Freundin wusste nichts davon. Auch sie wird weitersuchen.
Wie viele Menschen mögen das Buch gelesen haben oder noch lesen, die sich ebenso auf die Suche machen oder noch machen werden, ohne dass es dessen Autor je erfahren wird?
Eine Stimme aus der Vergangenheit ruft
Das für den Verfasser von Lügen und Scham erstaunlichste, aber auch anrührendste Erlebnis war eine E-Mail, die ihn aus „heiterem Himmel“ – wie man so schön sagt – erreichte. Es war ein gedankenvolles Rufen aus der eigenen, längst vergessenen Vergangenheit.
Eine Frau hatte sein Buch gelesen. Wie sie darauf gekommen war, schrieb sie nicht. Aber sie schrieb in ihrer E-Mail, dass sie nach der Lektüre „erschüttert, traurig, aber auch überrascht“ war. Erschüttert, weil es sie an ihre deutsche Heimat erinnerte, die sie vor fast dreißig Jahren verlassen hatte, als sie nach Frankreich ging. Traurig wurde sie, als sie beim Lesen dem Lebensweg des Buben folgte und dessen Suche nach Liebe, Sicherheit und (väterlicher) Zuneigung erkannte.
Und es war eben jener Junge gewesen, der ihr als junger Mann den „schönsten Liebeskummer“ bereitet hatte, den sie in ihrem bisherigen Leben gespürt hat. Denn, so stellte sich nach einigen E-Mails heraus, das einmalige Treffen im Juni 1966 endete bitter-süß: Der damals 22jährige Student sagte zu der damals 18jährigen Schülerin, die sich unsterblich in ihn verliebt hatte, dass er sich auf sein Studium konzentrieren müsse und dafür seine Freiheit brauche. Und dass sie lernen müsse, „den Moment zu leben und keine Pläne zu machen.“
Die Mail der Unbekannten aus Frankreich gab einen Dialog wieder, der dem 80jährigen Verfasser dieses Buches ein ungläubiges Staunen bescherte:
Vor fast 60 Jahren soll er zu ihr gesagt haben: „Du wirst mir einmal dankbar sein, und in zehn Jahren werden wir darüber lachen“.
„Und Freunde bleiben?“, soll sie zaghaft geantwortet haben.
„Wenn man sich küsst, kann man keine Freunde sein“, soll er geantwortet haben.
Und so scheinen sie sich nicht geküsst zu haben. Sie trennten sich. Zum Abschied habe er ihr gesagt: „Geh nie mit jemanden, der nicht für immer bei Dir bleibt.“
Texte wie ein Parfüm
Die Autorin dieser Zeilen hat mit Reaktionen auf ihre Texte bislang eher lustige Begegnungen gehabt, Geschenke bekommen – oder es bildeten sich neue Freundschaften durch den Dialog über sie.
Unvergessen der Moment, als ein FAZ-Leser ihr nach einem Artikel über sogenannte Traumhäuser ein großes, selbst gebautes Modellhaus (ihr Traumhaus?) in einem großen Karton schickte und sie einlud, ihn zu einem Abendessen im Wald in einem solchen zu besuchen. Eine echte Freundschaft entstand nach der Feuilleton-Kritik der Kunstausstellung in einer bayerischen Stadt, deren Ton ein anderer Künstler so „einmalig differenzierend und gut zu lesen fand“, dass er die Autorin anrief und sie darum bat, bei seiner eigenen Ausstellung als Laudatorin zu funktionieren. Aus dem ersten Treffen zwischen der blutjungen Journalistin und dem über 80 Jahre alten Maler wurde eine wunderbare literarische Freundschaft, die bis zum Tod des Künstlers hielt. Er zeichnete sogar die Liturgieblätter für ihre Hochzeit, übersetzte Gedichte für sie aus dem Tschechischen, sie reisten zu Festspielen und besuchten zusammen berühmte Zinniengärten. Wieder ein anderer Leser war so begeistert über einen FAZ-Text, der ein Loblied auf den Eames Lounge Chair sang, dass er die Autorin zu einem Treffen mit dem von ihm neu gekauften Sessel einlud. Auch aus diesem Treffen wurde eine Lebensfreundschaft zwischen Leser und Autorin.
„Ein Parfum kann eine Brücke zwischen zwei Menschen sein, es berührt den anderen zart, und dieser kann darauf antworten oder nicht“, sagte einmal Jean-Claude Ellena, der berühmte Parfümeur des Hauses Hermès auf die Frage, was ein Duft auslösen könne. Genauso ist es mit Worten. Mit Artikeln und Büchern. Worte sind Brücken zwischen Menschen. Niemand kann abschätzen, was sie im Kopf und Herzen der Leser bewirken. Schon dafür lohnt es sich, Texte zu schreiben. Und zu veröffentlichen. Und ach ja: Nach einem Text über ein Parfüm ihrer Mutter, das es nicht mehr auf dem Markt gab, mischte der Parfümeur als Überraschung zu Weihnachten für die Autorin einen kleinen Flakon mit dem „parfum de maman“ und schickte ihn ihr aus seinem Labor im südfranzösischen Grasse nach Deutschland. Die Magie der Worte wurde Duft.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.