Wer also spricht, und warum?

Ein Tagungsband von Ingrid Bennewitz, Freimut Löser und Martin Fischer spürt (auto-)biographischen Mustern in mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur nach

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literarische Biographien gibt es seit Langem, und auch Autobiographien haben Konjunktur. Nicht zuletzt eine Bandbreite an selbstdarstellerisch veranlagten Individuen, seien es Sportler, Schauspieler oder Politiker, hat längst entdeckt, wie lukrativ es sein kann, das eigene Bild literarisch ins rechte Licht zu rücken und den eigenen Namen – als Verfasser und/oder Gegenstand – auf einem Buchdeckel zu sehen. Dafür muss man nicht einmal selbst schreiben können, nur die finanziellen Mittel haben, andere (unter dem eigenen Namen) eine gefällige Lebensgeschichte konstruieren zu lassen. Aber wann begann dieses „seit Langem“? Das hängt wohl, wie zu erwarten, wesentlich davon ab, was man unter (Auto-)Biographie versteht.

Für einen unscharf begrenzten Zeitraum wie das Mittelalter, für den generell ein teils ähnliches, vielfach aber alteritäres Verständnis von Autorschaft vorausgesetzt wird, kann hier kaum eine klar definierte Textgattung per se angenommen werden. Zugleich haben viele Fallstudien gezeigt, dass mittelalterliche Autoren keinesfalls völlig hinter ihre Erzählungen zurücktreten, dass sie sich selbst vielmehr durchaus eine Stimme zugestehen und diese in vielfältiger Weise zum Ausdruck zu bringen verstehen. Doch wer spricht da, wenn im Text ein greifbares Ich von und über sich redet, warum wollte ein Autor sich selbst augenscheinlich in seine Erzählungen einschreiben (oder eben nicht), warum wollte er (s)ein Leben, in Anlehnung an den Buchtitel, literarisch verdichten und zugleich erdichten?

Solchen Fragen geht der vorliegende Tagungsband (V)erdichtete Leben. Literarische Lebensmuster in Mittelalter und Früher Neuzeit in der stets abwechslungsreichen Reihe der Jahrbücher der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft nach. Einschließlich der knappen Einleitung sind hier zwei Dutzend Aufsätze versammelt, die auf ein Symposium im Jahre 2019 zurückgehen und keinesfalls auf Oswalds Lieder beschränkt bleiben, welche für die Forschung geradezu ein Paradebeispiel autobiographischer Dichtung darstellen. Die im Band behandelten Texte entstammen dem deutschsprachigen Raum, sind teils von berühmter Feder geschrieben, teils von (heute) weniger präsenten Autorinnen und Autoren verfasst. Fraglos, wie die Herausgeber anmerken, hätte man gesamteuropäisch erweitern können – Richtung Anglistik, Romanistik, Skandinavistik –, aber auch in vorliegender Konzentration ist die Bandbreite bereits bemerkenswert.

Hier einzelnen Argumentationen nachzugehen, verbietet sich, aber einige Texte, Themen und Thesen seien beispielhaft genannt. So geht es etwa um die Frage nach Gönnerfiguren, die, wie Bernd Bastert für den deutschsprachigen Artusroman konstatiert, nicht immer eindeutig identifizierbar sind (gar weil der Stoff nicht gönnerwürdig war?) und vielmehr im Sinne poetologischer Gönnerschaftsfigurationen einer Deutung in der Rezeption bedürfen. Oder um die Frage nach der Autorisierung der eigenen Dichtung durch den Dichter, der vor der Herausforderung stand, seine Autorschaft in einem noch nicht institutionalisierten Literarturbetrieb zu begründen, wie Seraina Plotke mit Blick auf unter anderem Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach herausarbeitet.

Biographische Camouflage deckt Wolfgang Haubrichs in der Lyrik Walthers von der Vogelweide auf, worunter er die „Tarnung des eigentlich Beabsichtigten durch den Aufruf des Autors, der Walther-Instanz“, versteht. Auch Christoph Schanze rückt Walther ins Zentrum, um an dessen eigenartigem Bohne-Halm-Vergleich aufzuzeigen, wo die Grenzen autobiographischer Deutungsansätze seitens der aktuellen Literaturforschung liegen.

Gar das Fehlen eines biographischen Profils bei gleichzeitiger Verknüpfung der vermutlichen Urheberin mit von dritter Seite (bewusst?) anonymisiertem Bericht, konkret das Beispiel der latinisierten Visionen der Dorothea Beier, bedenkt Stefan Abel, wobei er weniger Erdichtung und Verdichtung wirksam sieht als vielmehr Legitimisierungsstrategien, die Dorotheas Leben mit anderen visionären Frauengestalten vernetzen.

Mit der Frage, was sich in ein (kollektives) Ich mit Blick auf den Autor überhaupt hineinlesen lässt, beschäftigt sich Britta Bußmann; vielleicht wenig verwunderlich konstatiert sie das Vorhandensein verschiedener Ich-Typen in den Liedern Oswalds. Die Bedeutung von Ich-Aussagen bei der weniger bekannten Autorin Mechthild von Magdeburg arbeitet Alexander Rudolph heraus, der hier vor allem eine Orientierungsleistung umgesetzt sieht, die in der Rezeption die Aktualisierung der Ich-Identität erlauben würde.

Die Frage nach der eingeforderten Leistung beim intendierten Publikum untersucht auch Kathrin Chlench-Priber anhand Georgs von Ehingen: Während Georgs Reisetätigkeit grundsätzlich unstrittig ist, scheint sein Reisebericht eben nie als wissensüberquellender Führer gedacht gewesen zu sein, denn vielmehr als Versuch einer Identitätsfindung und -einschreibung in Kreisen des europäischen Adels – ein der eigenen Person weitgehend enthobenes Vorleben ritterlicher Tugendhaftigkeit. Eine weitere Perspektive auf diese Fragestellung eröffnet sich, um ein letztes Beispiel zu nennen, in Christian Hoffarths Betrachtung von Hans Schiltbergers sogenanntem Reisebuch, in dem die Pronomina „Ich“ und „Wir“ dem und den Anderen gegenüberstehen, worin nicht zuletzt eine „therapeutische Funktion“ liegen mag, gleichsam die literarische Versicherung der persönlichen Identität nach Jahrzehnten des drohenden oder gar erfolgten Identitätsverlusts in der Fremde, der schließlich die vermeintliche Heimat ebenso zur Fremde werden lässt.

Die Betrachtung einzelner Beiträge sei an dieser Stelle abgebrochen. Deutlich wird das Spektrum der Annäherungen an den bestenfalls scheinbar eindeutigen Begriff der (Auto-)Biographie im Blick auf vormoderne Literatur. Bekanntes steht hier neben wenig Bekanntem, Texte des 12. Jahrhunderts neben denen des 15. und 16. Jahrhunderts, vielerforschte Autorengestalten neben solchen im editions- und forschungsgeschichtlichen Schattendasein. Das alles steht also wesentlich nebeneinander und findet je eigene Zugänge zum übergeordneten Titel. Dem kann man sich in der Art eines inspirierenden Fundus näheren und überall etwas entdecken, Gemeinsames und Widersprüchliches. Im Gesamtblick hätte man sich dazu aber auch eine etwas umfangreichere Einleitung oder ein entsprechendes Schlusswort vorstellen können im Sinne einer vergleichenden Engführung grundsätzlicher Ein- und Ansichten von Tagung und Tagungsband hin zu einem Muster lokal unterschiedlicher Dichte. Diese Leistung bleibt der Leserschaft überlassen, der immerhin ein kleines Werkregister an die Hand gegeben wird.

Das Buch richtet sich an ein Fachpublikum mit unter anderem genügender Kenntnis des Mittel- und Frühneuhochdeutschen, um den durchweg nicht übersetzten Quellenzitaten (Ausnahme: Latein) folgen zu können. Allerdings bleibt die Auswahl an Gestalten und Werken ebenfalls auf diesen Sprachraum begrenzt, sodass die Rezeption sich wohl weitgehend auf entsprechende Kreise beschränken wird. Fraglos interessant wäre in künftiger Forschung eine sprachraumübergreifende Ausweitung und Zusammenführung von anknüpfenden Unterthemen. Hier kann das vorliegende Buch ebenso fraglos einen inspirierenden und vielstimmigen Ausgangspunkt bieten.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Ingrid Bennewitz / Freimut Löser / Martin Fischer (Hg.): (V)erdichtete Leben. Literarische Lebensmuster in Mittelalter und Früher Neuzeit. Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft, Band 23 (2020/2021).
Reichert Verlag, Wiesbaden 2022.
456 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783752006322

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch