Grenze ist etwas Konkretes, Grenze ist erzählerische Kunst
Ein tiefgründiger literaturwissenschaftlicher Sammelband zum Thema Grenze ist erschienen
Von Martin Lowsky
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVom Künstler erwartet jeder, dass er Grenzen missachtet, sich in Grenzzonen bewegt, Grenzen verspottet. Über die Grenze ist der Titel des neuen Sammelbandes, ‚Über die Grenze‘ lautet ein Gesprächsthema in Eduard von Keyserlings Bunten Herzen (wie in diesem Band der Beitrag von Harald Hohnsbehn darlegt), und ‚Über die Grenze‘ ist mehrfach eine Kapitelüberschrift bei Karl May. Dieser neue Band will den Begriff Grenze ausleuchten und kategorisieren. Es gebe, heißt es einleitend, geografische, territoriale, soziale Grenzen, auch historische, ästhetische und kognitive; und diese Arten verschränken sich noch.
Von hier ausgehend liefert der Band verschiedenste Einblicke und Erkenntnisse. Beim Umgang mit Grenzen bilden sich in dem heutigen schwierigen Europa „potentiell destruktive Prozesse“ (Beitrag von Christoph Jessen). In der im 16. Jahrhundert spielenden Erzählung Sankt Thomas von Wilhelm Raabe, entsteht (so Iulia-Karin Patrut) unter Eroberern – den Spaniern und Niederländern – und Unterdrückten eine unerwartete Grenzlinie: nämlich zwischen Niederländern und schwarzen Sklaven einerseits und Spaniern andererseits. Was heißt ‚Andersartigkeit‘ unter solchen Bedingungen? Untersucht wird (von Markus Floris Christensen) der schwedische oder vielmehr europäische Autor August Strindberg, der in Paris, Kopenhagen und Berlin lebte und immer durch Kultur und Atmosphäre neu angeregt wurde. Die Pariser Jahre – höchst bemerkenswert! – haben ihn veranlasst, seinen Verfolgungswahn durch die Hingabe an den Alltag und seine „Brüche“ ästhetisch aufzuarbeiten. In Klaus Groths niederdeutschem Bildungsroman Detelf kommen (so Robert Langhanke) zwei Wünsche zusammen: der nach Sesshaftigkeit (vor allem infolge von elenden Kriegserfahrungen) und der nach ‚intellektueller Entgrenzung‘ – „Böker un Wetenschop“ symbolisieren sie –, wobei die großen Momente der Selbstfindung entstehen. Die Vision oder eher das Gedankenexperiment Die Vaterlandslosen des dänischen Schriftstellers Hermann Bang kündigt eine Übernahme Europas durch Ostasien an und spricht dabei (laut Anders Ehlers Dam) von einem vergangenen goldenen Zeitalter der Nationen, einer Zeit des Übergangs und einer kommenden Ära des Stillstands und des Resignierens. Nur die mittlere dieser drei Phasen ist die wahrhaft humane – die des Aufbruchs, der Entwicklung, des Grenzbereiches, eben die heutige. Hierzu passen die Überlegungen (von Reto Rössler) über Raabe und Robert Musil, wonach die ‚Demarkationslinie‘ zwischen alter und moderner Literatur sich in raffinierter Weise verwischt.
Wir können nicht alle Beiträge des Bandes nennen, und auch die genannten haben wir natürlich nur pauschal vorgestellt. Überall finden sich kluge Detailbeobachtungen und Querverbindungen.
Ein besonderer Glanzpunkt des Bandes ist zweifellos der erste Beitrag (von Matthias Bauer). Die vorhin erwähnte Kategorisierung der Grenze wird noch weitergeführt, und zwar geht es – wir vereinfachen – um eine besondere Zweiheit: das Auftreten von Grenzen als Erzählmotive, also um etwas durchaus Konkretes, und das Auftreten von Grenzen in der Erzählweise, also als ein im Text verborgenes Phänomen. Diese Zweiheit wird aufgedeckt in Erzählungen von Keller, Pestalozzi, Fontane (Quitt) und Storm (Von Jenseit des Meeres). Bei Storm ist die erste Grenze diejenige bezüglich der Räume, Hautfarben, Bevölkerungsklassen und letztere die der rassistischen Überhebung und der inhumanen Verblendung. Es gibt die Abgründe des Meeres, aber auch die ideologischen Abgründe. Bei Fontane erscheint in ähnlicher Weise das Thema des Displacements – die Absonderung am Wohnort, die erzwungene Unterordnung, die Flucht nach Amerika –, dem unterschwellig ein psychischer Umbruch entspricht: der Wechsel der Rechtsauffassung, der politischen Haltung oderder Lebenseinstellung. Man weiß es ja: Gute literarische Texte sind mehrdeutig, erregend, dynamisch. Hier bekommt man solche Dynamiken erklärt.
Eine besondere Feinheit sei noch eigens genannt. Sie ergibt sich, erfahren wir, indem Fontane seinen Helden, den preußischen Amerikaflüchtling, durch einen französischen Amerikaflüchtling, einen Linksrepublikaner, kontrastiert. Straftäter sind beide. Der Franzose glaubt nicht an Sühne und Vergebung, vielmehr an das „Irreversible der Grenzüberschreitung“, wovon aber der Preuße nichts wissen will, der schließlich eines Besseren belehrt wird und sterben muss. Als ein Resümee bleibt Fontanes Frage an den Leser: Wie hängen Moral und Metaphysik zusammen?
Der Beitrag liest sich nicht so einfach weg, es wird viel theoretisiert. Aber man wird dann doch gepackt und ist beeindruckt, wie souverän hier innerliterarische, ideologische und historische Deutungsmethoden ineinandergreifen.
Das Buch ist jedem Literaturkenner zu empfehlen. Sind Vorhaltungen zu machen? Allenfalls diese (die aber auch bei dieser Rezension zuträfe): Wenn man Autoren bespricht, sollte man als Dienst an den Leser immer auch die Lebensdaten dazusetzen.
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