Splitter des beschädigten Lebens
Raymond Carvers Erzählungen aus einer hoffnungslosen Zeit
Von Jörg Auberg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWährend deutsche Verlage sich bemüßigt fühlen, dem hiesigen Publikum die Arbeiten zweit- und drittrangiger amerikanischer Autoren zugänglich zu machen, wurde das Werk Raymond Carvers (1938 - 1988) hierzulande bislang stiefväterlich behandelt. Zwar brachte der Piper Verlag in den frühen neunziger Jahren zwei Erzählbände Carvers heraus, doch stellten sie freilich lediglich einen Querschnitt der amerikanischen Originalausgaben dar und ebneten die Unterschiede seiner erzählerischen Entwicklung ein. Dem Berlin Verlag ist es zu verdanken, dass nun das Werk Carvers - des "besten amerikanischen Kurzgeschichten-Ezählers seit Hemingway" (Robert Stone) - in einer kongenialen Neuübersetzung von Helmut Frielinghaus, die präzise den "Carver-Sound" ins Deutsche überträgt, mit zwanzig Jahren Verspätung den Weg nach Deutschland findet. Nach dem ersten Band "Würdest du bitte endlich still sein, bitte" (im Original 1976 erschienen) liegt nun auch die Übersetzung der zweiten Sammlung "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" vor.
In einer Zeit, da Literaten hierzulande planvoll ihre Karriere verfolgen, Literatur als "Start-up-Business" betrachten, in Talk-Shows zwecks Produkt-Placements auftreten und selbstverständlich eine Homepage unterhalten, erscheint Carver wie ein Relikt aus einer toten Zeit, wie die archetypische Verkörperung des amerikanischen Schriftstellers, den Jean-Paul Sartre in seinem Essay "Was ist Literatur?" wie folgt skizzierte: "Er schreibt blind aus einem absurden Bedürfnis, sich von seiner Angst und von seiner Wut zu befreien." Augewachsen in einfachen Verhältnissen in Oregon, hangelte sich Carver von Job zu Job, ehe er seine Affinität zum Schreiben zum Beruf machte, während private Disaster - Alkoholismus und Beziehungsprobleme - sein Leben begleiteten, ein Leben, an dessen Ende der verlorene Kampf gegen den Lungenkrebs stand.
"Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" ist eine Sammlung von siebzehn Texten, die in ihrem minimalistischen, sparsamen, kargen Stil Geschichten aus "Hopelessville" ähneln, wie ein zeitgenössischer Rezensent in der "Saturday Review" schrieb. Die Protagonisten sind amerikanische Kleinbürger aus dem Westen oder Mittelwesten, die selbst Dinge in einer Welt der Dinge sind, deren Lebensentwürfe und Beziehungen an den harten Realitäten scheitern und in einer zunehmend sprachlosen Verzweiflung enden. Die Settings scheinen der Bilderwelt Edward Hoppers entsprungen: Küchen, Schlafzimmer, Restaurants, Motels mit Frisierkommoden, Pappkartons, Zierkissen, Tüten und bügelfreien Hosen als Requisiten. Mit dem Zerbröseln der Beziehung oder dem Verlust der wirtschaftlichen Existenz wird zugleich alles, was sich damit verbindet, wie Trödel verhökert. In der ersten Geschichte des Buches bietet ein verzweifelter Alkoholiker, dessen Ehe zu Brüche ging, seine Habseligkeiten im Garten zum Verkauf an und verscherbelt sein Ehebett an ein junges Ehepaar. Geschichte setzt sich wie gehabt fort: trostlos, melancholisch, ohne Aussicht darauf, dass es irgendwo und irgendwann besser verlaufen könnte.
Carvers Meisterschaft liegt in der Auslassung, in der planvollen Konstruktion textueller Gebilde, die auf dem ersten Blick lediglich triviale oder banale Oberflächen abbilden, unter denen jedoch Tiefen oder Untiefen lauern, auf die der Leser kaum vorbereitet ist. Häufig schmuggelt Carver unmerklich Tretminen in die Texte, die zunächst wie kaum merkliche Beiläufigkeiten erscheinen und erst am Schluss ihre Sprengkraft offenbaren. Diese Technik verleiht den Geschichten Carvers eine verstörende Irritation, die das vie quotiedienne als unablässige Sequenz von Katastrophen erfahren lässt. Die Lektüre vermittelt den Eindruck, als ob man den Inhalt zwischen den Zeilen nicht erfasst habe. "Da war noch mehr an der Geschichte", resümiert einer von Carvers Protagonisten, "und sie versuchte, es sich ein für alle Mal von der Seele zu reden. Nach einiger Zeit gab sie den Versuch auf."
Für Carver war diese Kurzgeschichtensammlung, wie er später sagte, nicht der Ausgangspunkt für eine Neudefinition seiner literarischen Produktion, sondern ein Wendepunkt. Wäre er in diese Richtung weitergegangen, meinte er, hätte dies in einer Sackgasse geendet. Es sind hoffnungslose Erzählungen aus einer hoffnungslosen Zeit - und darum so aktuell wie zu ihrer Entstehungszeit.
|
||