Die kleine Seejungfrau von New York

Michael Wallners Debütroman

Von Mathias SchnitzlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathias Schnitzler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Undine Nielsson - Undine heißt auch die Wassernixe aus Fouqués gleichnamigem romantischen Volksmärchen - ist eine junge schwedische Schauspielerin, die im New York der frühen zwanziger Jahre mit dem aus Österreich stammenden Regisseur Glawatsch einen Stummfilm dreht. Leitmotivisch stimmt sie immer wieder das traurige Lied von der "Sjöjungfru" an, die den schiffbrüchigen Prinzen liebt und eine menschliche Seele gewinnen will. Der Magier Yurgrave verliebt sich in die unnahbare Undine, und ein Kind wird geboren. Dreißig Jahre später: Die Delfindompteurin Henrietta will die Sprache ihrer Schützlinge erlernen und greift dabei auf die Hilfe des Magiers zurück, der inzwischen in einer Nervenheilanstalt sitzt. Manhattan 1991: Ein junges Filmteam will die Geschichte einer Delfintrainerin verfilmen. Für die Hauptrolle wird eine junge Schauspielerin mit dem Namen Undine Nielsson gecastet. Leopold verliebt sich in die mysteriöse Schwedin und wähnt sich einem Geheimnis auf der Spur, als er Undine in einem alten Stummfilm entdeckt.

"Und die kleine Seejungfrau küsste seine Hand, und es kam ihr schon vor, als fühle sie ihr Herz zerbrechen. Sein Hochzeitsmorgen würde ihr ja den Tod geben und sie in Schaum auf dem Meer verwandeln." Hans Christian Andersens Märchen ist vielleicht die traurigste Geschichte der Weltliteratur. Sie handelt von Liebe und Sexualität, von Sehnsucht und Begehren, von Verlust und Tod. Warum wählt ein ehemaliger Bühnenregisseur und Schauspieler, dessen Inszenierungen nach eigenen Aussagen "crazy und geil" waren, solch einen Stoff für seinen ersten Roman? Bei Michael Wallner hat das Verwirrspiel Methode, nichts ist, wie es zunächst scheint. Er bettet den tragischen Kern des Märchens vom unglücklich liebenden Meerjungfräulein ein in eine heitere, oft komische Rahmenhandlung und überträgt sie ins Manhattan des 20. Jahrhunderts. "Manhattan Transfer" einmal anders.

New York als Umschlagplatz der Träume und Hoffnungen: Immer noch bietet die Metropole ein treffendes Bild für das Streben der Menschen nach Glück und Macht. "Manhattan fliegt" heißt der Debütroman des 1958 geborenen Österreichers, und es sind jene Träume und Hoffnungen, die in einer Schlüsselszene des Buches in Schmetterlinge verwandelt über die Stadt fliegen. "Manhattan ist eine riesige Filmkulisse." Anders als Dos Passos in seinem großen Manhattan-Roman blendet Wallner die soziale Realität weitgehend aus, denn "wer will Obdachlose sehen und verschandelte Highschools mit lebensmüden Pubertierenden?" Schon eher fühlt man sich an Bulgakows Meisterwerk "Meister und Margarita" erinnert, in dem der leibhaftige Teufel und seine Zauberlehrlinge Moskau ins Chaos stürzen.

Zauberer, Menschen, die sich in Tiere verwandeln und Doppelgänger: Es ist eine der Realität enthobene Welt, in der wir uns befinden. Wallners Figuren sind kindgebliebene Erwachsene, jähzornig und trotzig. Einfallsreich und voller Sehnsucht drängen sie auf die sofortige Erfüllung ihrer Wünsche. Einzig der Österreicher Leopold scheint normal zu sein, ihn hat es aus Langeweile nach New York verschlagen. Er ist der ideale Erzähler für dieses versponnene Märchen.

Michael Wallner setzt die drei Zeitebenen des Romans virtuos in Szene. Handlungsstränge werden fortgeführt und gekreuzt, Figuren treten überraschend wieder auf, und zuletzt stellt man erstaunt fest, dass das Drehbuch des geplanten Films der Binnenhandlung des Romans gleicht. Die Frage nach Fiktion und Wirklichkeit, die Wallner in seinem zweiten Roman "Cliehms Begabung" anhand der Zeitproblematik stellt, wird hier mit romantischer Ironie gewürzt: "Halte ich das alles für Humbug", fragt sich der Erzähler Leopold, "'Das Zeitalter des Delfins' mit seiner Botschaft für die Welt, die schmolllippige Undine"? Sein Entschluss, sich auf die Sache einzulassen, verweist auch auf den Vertrag, den ein jeder Leser mit dem Autor schließt, wenn er in die Welt der Literatur eintauchen will.

Die grünliche Farbe und der Schaum des Meeres spielen in Wallners Roman eine zentrale Rolle. "Undine beginnt zu zerfließen. Ich kann ihre Konturen noch sehen, den träumenden Mund, die großen neugierigen Augen, das Grübchen über dem Kinn, aber gleichzeitig ist es bloß eine Spiegelung, ein Gebilde aus Schaumkronen und Wellen, die nur scheinen, als wären sie Undine." Der tänzelnde Schaum auf den Wogen des Meeres: Die Geburt der Aphrodite in der griechischen Mythologie ist ein oft verwendetes Motiv zur Beschreibung des spezifischen Charakters des Kunstwerks. Das Kino als das Medium, das sich zwischen Erscheinen und Verschwinden konstituiert, ist für Wallner Sinnbild für die Kunst schlechthin.

"Manhattan fliegt" ist ein Roman, der dem Kino viel verdankt. Die gelungene szenische Darstellung, das Nebeneinander der verschiedenen Zeitebenen sowie pfiffige, ungekünstelte Dialoge und eine saloppe Sprache lassen ein Panorama entstehen, dass wie für den Film geschaffen ist. Auf wunderbare Weise lässt Wallner die Welt des Stummfilms aufleben, und wir fühlen uns zurückversetzt in die Zeit von Ernst Lubitsch und Asta Nielsen. Die phantastischen Einfälle werden gelegentlich über Gebühr bemüht: etwas weniger wäre hier mehr gewesen. Dafür hätte man gerne mehr über das Schicksal der Seejungfrau von Manhattan erfahren.

Bei Michael Wallner stehen Literatur und Kino nicht in Konkurrenz, beide profitieren voneinander. In Deutschland, wo das Kino immer noch die Unterhaltung und das große Gefühl repräsentiert, die Literatur aber eine ernste Angelegenheit ist, sind diesem Roman viele Leser zu wünschen.

Titelbild

Michael Wallner: Manhattan fliegt.
Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 2000.
320 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3379017159

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