Vom Leben und Überleben im SED-Staat
Mit seinem Roman „Ruinen und Revolution“ schließt Max Haberich seine fünfteilige Familienchronik ab
Von Günter Rinke
In seinem vor zwei Jahren erschienen Roman Glanz und Schatten beschäftigte sich Max Haberich vorwiegend mit Problemen von Künstlerinnen und Künstlern, die in Hitlers Reich zu überleben versuchten und sich dabei unweigerlich in die Machenschaften des Regimes verstrickten. Hauptfigur des Romans ist der Schriftsteller Friedrich Karl Baltenried, der einen halbherzigen Widerstandsroman, aber auch Drehbücher für die Nazis schreibt.
Haberichs nun erschienener Nachfolgeroman, der im Untertitel als fünftes Buch der „Baltenried-Chronik“ gekennzeichnet ist, erzählt die Geschichte von Johannes Baltenried, dem Sohn von Friedrich Karl und der Schauspielerin Natalja Nemzowa. Das Erscheinen der ersten drei Teile der Familienchronik, die bis ins Jahr 1815 zurückreichen soll, ist für das Jahr 2025 geplant.
Der vorliegende Band enthält nicht nur den Roman, dessen erzählte Zeit die Jahre von 1943 bis 1990 umfasst, sondern darüber hinaus ein längeres Nachwort, das über weite Teile nur lose mit der Romanhandlung verbunden ist. Wie bei Glanz und Schatten gibt es auch hier wieder einen Hinweis darauf, dass die Romanhandlung aus Quellenstudien erwachsen ist. In diesem Fall sind es Gesprächsprotokolle der Soziologin Molly Andrews mit Bürgerrechtlern der ehemaligen DDR aus den Jahren 1992, 2002 und 2021. Andrews verfolgt einen gesellschaftswissenschaftlichen Ansatz, der nahe bei der erzählenden Literatur angesiedelt ist. In ihrem Buch „Narrative Imagination and Every Day Life“ (2014) versucht sie zu klären, wie in Geschichten gefasstes Erlebtes durch Imagination, also Vorstellungskraft bzw. Phantasie geformt, eventuell auch überformt ist. Haberichs Romanprojekt übersetzt diesen Ansatz in fiktionale, aber nah an der historischen Realität angesiedelte Literatur.
Wer die beiden Romane nacheinander liest, wird zunächst dadurch irritiert sein, dass in Glanz und Schatten im 1959 spielenden Schlusskapitel ein gelockter Jüngling auftritt, der als Baltenrieds und der Nemzowas Sohn vorgestellt wird. Der Schauplatz dieses Familientreffens ist Bordighera, wo bei einem Filmfestival eine Felix Krull-Verfilmung nach Baltenrieds Drehbuch vorgestellt wird. Tatsächlich erhielt der 1957 gedrehte Felix-Krull-Film von Kurt Hoffmann nach dem Drehbuch von Robert Thoeren und Erika Mann in Bordighera einen Preis. Haberich arbeitet also immer nah an den Tatsachen. Wer aber ist dieser Jüngling? Um Johannes kann es sich nicht handeln, denn der wächst in der Nähe von Hamburg bei Pflegeeltern auf, verliert im Bombeninferno seine Pflegemutter und kommt mit seinem Pflegevater, einem Pastor, nach Sachsen, von wo er erst 1979, also zwanzig Jahre nach dem erwähnten Filmfestival, gewaltsam in den Westen gebracht wird. Das Rätsel bleibt unaufgeklärt.
Johannesʼ Leben bis zum mittleren Mannesalter ist dadurch bestimmt, dass er zwei Diktaturen erleidet. Erst wird er ins nationalsozialistische Jungvolk gezwungen, liest im Zeltlager heimlich Werke von Wilhelm Busch und erlebt eine erste Jugendliebe. Nach Kriegsende wird aus der sowjetischen Besatzungszone die DDR, in der kirchennahe Personen zunehmenden Repressionen ausgesetzt sind. Johannesʼ Pflegevater wird Mitte der 1950er Jahre wegen seines Protests gegen die Jugendweihe verhaftet und verschwindet gleich ganz aus dem Roman. Johannes verliebt sich ausgerechnet in die katholische Klassenkameradin Annedore, die beiden werden dauerhaft ein Paar und bekommen eine Tochter. Während andere Klassenkameraden sich mit der SED arrangieren – einer wird Wissenschaftler, ein anderer Oberleutnant bei der Stasi –, engagiert sich Johannes, der als Buchhändler arbeitet, im kirchlichen Widerstand und ist demzufolge ständig in Gefahr, bis er schließlich abgeholt, betäubt und nach Bayern abgeschoben wird. Eine als Redakteurin tätige Schulfreundin seiner Frau unterschreibt in einer Zwangslage eine Verpflichtung als IM der Stasi, verfällt dem Alkohol und ertränkt sich schließlich in einem Fluss. Johannes, der längst weiß, wer seine leiblichen Eltern sind, sich aber lange geweigert hat, der Idee seines Vaters zu folgen und eine Ausreise in den Westen anzustreben, lebt gegen seinen Willen in München, auf Jahre getrennt von Frau und Tochter, bis es 1989 zur Öffnung der Mauer und damit zur glücklichen Wiederbegegnung und Familienzusammenführung kommt.
Die Romankapitel sind wieder, wie im Vorgängerbuch, mit Monatsnamen und Jahreszahlen überschrieben, so dass in mehr oder weniger großen Zeitsprüngen erzählt wird. Eingestreut sind Informationen zur Zeitgeschichte, also Ereignisse wie der Aufstand vom 17. Juni 1953, die Suezkrise und der Ungarnaufstand von 1956, der Mauerbau, Kennedys Staatsbesuch, die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 usw. Hier und da hat das Lektorat Fehler übersehen, etwa da, wo von der Ausbürgerung Biermanns bereits im Kapitel „Dezember 1965“ die Rede ist, dasselbe Ereignis im Kapitel „November 1976“ aber, richtigerweise, noch einmal erwähnt wird. Ein Fehler ist auch, dass Ende April 1945 im Rundfunk gemeldet worden sei, „der größte Feldherr aller Zeiten“ habe Selbstmord begangen, war es doch vielmehr so, dass dem Volk weisgemacht wurde, er sei „bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend gefallen“. Das Alter des Großvaters Baltenried wird im Kapitel „August 1968“ mit Mitte siebzig angegeben, während er im November 1982 wieder achtundsechzig ist, gemeint sein kann wohl nur achtundachtzig.
Im Ganzen wird der Autor seinem Vorhaben gerecht, die Erinnerung an die Härten und ideologischen Verhärtungen der SED-Diktatur wachzuhalten und einer Verklärung der DDR entgegenzuwirken. Die Konzentration auf Figuren, die dem kirchlichen Widerstand angehören, macht dies möglich, hat aber den Nachteil, dass Aspekte eines weniger prekären, halbwegs angepassten Lebens im sozialistischen Staat mit gewissen Gratifikationen ausgeblendet bleiben. Andererseits gelingen ihm eindrucksvolle Momentaufnahmen, beispielsweise eine Szene zur „Bückware“ in Buchhandlungen, ein Gespräch zwischen einem Dekan der Humboldt-Universität und einem Professor über die Zulassung oder Nichtzulassung von Dissertationsthemen oder die Auseinandersetzung zwischen einer Redakteurin und ihrem Chef über einen angeblich zu positiven Bericht von einem Auftritt Loriots in Ostberlin.
Sprachlich erinnert der Roman, vor allem in den ersten Kapiteln, an ein Jugendbuch, was kein Nachteil sein muss und sich mit dem jugendlichen Alter des Protagonisten begründen lässt. Die Vorliebe des Autors für Dialoge in autonomer direkter Rede ohne inquit-Formel („er/sie sagte“) erschwert allerdings stellenweise die Lektüre, da man sich selbst erschließen muss, wer gerade spricht. Manchmal wünscht man sich mehr Erzähldistanz, z. B. durch die Verwendung von transponierter (indirekter) Rede oder durch erlebte Rede. Die auktoriale Erzählinstanz wechselt zwar souverän zwischen Figurenperspektiven und Schauplätzen, meidet aber in der Regel Einblicke in das Innenleben der Figuren. Solche Einblicke erhält man nur durch deren Reden oder durch Binnentexte wie von ihnen verfasste Briefe.
Im langen Nachwort, das den Charakter einer Streitschrift hat, formuliert Haberich recht unbekümmert seine Position zu Kontroversen, die in unserer Zeit geführt werden. Ausdrücklich wendet er sich dabei gegen das, was er den „linkspopulistischen Aktivismus“ nennt und mit marxistischer Ideologie in Verbindung bringt. Die gerade von linker Seite immer angefochtene Totalitarismusthese, die von der Wesensgleichheit nationalsozialistischer und kommunistischer Herrschaft ausgeht, setzt er als richtig voraus. Zwar spricht manches für sie, jedoch bleibt sie umstritten. Darüber hinaus kennzeichnet Haberich identitätspolitische Ideologeme, insbesondere zur Genderfrage, als marxistisch, was wegen der zugrundeliegenden unterschiedlichen Theorieansätze problematisch ist. Bedenken richten sich also nicht gegen die Inhalte, über die man verschiedener Ansicht sein kann, sondern gegen kurzschlüssige Herleitungen, wo doch sorgfältiges Differenzieren erforderlich wäre. Ein Beispiel gab kürzlich die Soziologin Eva Illouz, als sie in einer Rede Gründe für die „zerstörerische Kraft der Identitätspolitik“ herausarbeitete. Ihr Plädoyer für einen aufgeklärten Universalismus könnte möglicherweise auch von Max Haberich geteilt werden.
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