Ästhetische Erfahrung durch Irritationen
Sebastian Bernhardts Sammelband deckt ein breites Spektrum an Medien ab, die sich mit erzählerischer Unzuverlässigkeit auseinandersetzen
Von Michael Fassel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseErzählerische Unzuverlässigkeit ist ein ausgesprochen facettenreiches Phänomen, das die ästhetische Wahrnehmung von Texten und anderen Medien schärft. Inwiefern unzuverlässig dargestellte Narrative für verschiedene Jahrgangsstufen didaktisch aufbereitet werden können, beantwortet der Sammelband Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Medien. Didaktische Perspektiven von Sebastian Bernhardt. Der Herausgeber verspricht einleitend nicht zu viel, wenn er ein „Großprojekt“ ankündigt, das sich „mit der Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit von Erzählungen in transgenerischer und transmedialer Perspektive“ beschäftigt. Der Sammelband umfasst achtzehn Beiträge.
Ausgehend von Wayne C. Booths Begriffs- und Konzeptverständnis des unzuverlässigen Erzählens, setzt sich der Herausgeber konzise mit dem literaturwissenschaftlichen Diskurs und dem aktuellen Forschungsstand des Phänomens auseinander. Relevant ist, dass im Forschungsdiskurs zwar immer wieder auf Booth zurückgegriffen wird, sein Verständnis unzuverlässigen Erzählens jedoch umstritten bleibt. Zahlreiche Modifizierungen, Klassifikationsmodelle etc., wie sie u. a. von Ansgar Nünning, Tom Kindt, Stefanie Jacobi, Ina Henke oder Matthias Aumüller vorliegen, führen die Überlegungen weiter und versuchen dem Phänomen im aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskurs Rechnung zu tragen, indem es als relationales Phänomen verstanden wird. So ist es nur folgerichtig, dass es den einzelnen Autor:innen freigestellt ist, „darzustellen, welche Konzepte für die jeweiligen Kontexte als sinnvoll erscheinen und festzulegen, inwiefern, mit konkreten Klassifikationen gearbeitet wird.“
Der Sammelband ist in vier Sektionen gegliedert. Im ersten Part, „Unzuverlässiges Erzählen in Text-Bild-Medien“, befassen sich fünf Artikel mit konkreten Forschungs- bzw. Unterrichtsgegenständen, indem u. a. exemplarisch ausgewählte Bilderbücher und Comics für den unterrichtspraktischen Umgang näher beleuchtet werden. Nach fundierten systematischen Analysen von Unzuverlässigkeit in Schrifttext und Bilddarstellung folgen weiterführende Überlegungen zur didaktischen Umsetzung im Unterricht. Nicht ausgenommen sind überdies auch (Spiel-)Bilderbücher, die trotz Unzuverlässigkeitssignalen für Vorschulkinder geeignet sind. Die Beiträge des ersten Teils decken den Einsatz der Forschungs- bzw. Unterrichtsgegenstände für die gesamte Bandbreite möglicher Jahrgangsstufen ab. Besonders begrüßenswert ist die Berücksichtigung von Comics, die als Untersuchungsgegenstand sowohl im akademischen Diskurs als auch im Unterricht vermehrt Beachtung finden. Caroline Führer und Lukas Wilde steuern mit ihrem Beitrag „Lernen durch, zu und mit unzuverlässig erzählten Comics“ empirische Erkenntnisse zum Umgang mit Saschas Hommers Insekt in den Jahrgangsstufen 4 und 5 bei.
Die zweite Sektion, „Unzuverlässiges Erzählen in narrativen Texten“, umfasst vier Beiträge. Sie legen dar, wie nicht nur kinder- und jugendliterarische, sondern auch prosaische Texte der sogenannten Allgemeinliteratur für didaktische Perspektiven fruchtbar gemacht werden können. Inwiefern u. a. durch die Auseinandersetzung mit Romanen ein historisches Erzählen erkannt und kritisches Geschichtsbewusstsein entwickelt sowie reflektiert werden kann, zeigt z. B. Merit Meyer in ihrem Aufsatz „Marcel Beyers Flughunde (1995) im Literaturunterricht“. Sehr hilfreich dürfte von Meyer entwickelte und erprobte Unterrichtsstunde sein.
Die Beiträge im Kapitel „Unzuverlässiges Erzählen in Populärmedien“ schauen über den literarischen Tellerrand hinaus und thematisieren beispielsweise Hörspiele, Filme und Serien. Kjara von Staden diskutiert beispielsweise die kontrovers diskutierte Serie Tote Mädchen lügen nicht, die Mobbing und Suizid an einer US-Schule thematisiert. Für die Auseinandersetzung im Unterricht schlägt sie einen konkreten narratologischen Fragenkatalog vor, mit dem die Schüler:innen die verschiedenen Erzählebenen benennen, um das erzählende vom erlebenden Ich zu differenzieren. Angesichts der Multiperspektivität stellt sich etwa heraus, dass das subjektive Erzählen der Hauptfigur Hannah keineswegs per se der Wirklichkeit entspricht. Die Autorin plädiert darüber hinaus unter transmedialen Implikationen u. a. für einen Medienvergleich, indem neben der Serie die Romanvorlage hinzugezogen wird.
In der abschließenden Sektion „Unzuverlässiges Erzählen über Mediengrenzen hinweg“ widmen sich fünf Beiträge Computerspielen. Weitere Artikel erweitern das mediale Spektrum, indem sie gar danach fragen, wie etwa museale Ausstellungsformate für Irritation sensibilisieren können. Die Erweiterung des Phänomens über reine Textgrenzen hinweg erweist sich als einfallsreich, da erzählerische Unzuverlässigkeit auch auf visuelle Medien wie Computerspiele oder gar Ausstellungen übertragen werden kann. Letzteren widmet sich Sebastian Bernhardt. Der Autor erweitert in seinem Beitrag den Blick auf Symmedien und plädiert zugleich für Museen als außerschulische Lernorte, in denen ästhetische Erfahrung schon im frühkindlichen Alter ermöglicht werde. Als Beispiele führt der Autor u. a. das Museum der Illusionen in Hamburg an, in dem die Täuschungen von Größenverhältnissen über Irritationspotenzial verfügen und einen Reflexionsprozess in Gang setzen. Selbst Museen wie das exemplarisch angeführte Kleist-Museum in Frankfurt/Oder weisen in einigen Narrativen Unzuverlässigkeitssignale auf (z. B. durch verblassende Schrift und kaum erkennbare Wörter).
Der Sammelband demonstriert angesichts seiner durchweg innovativen Beiträge, wie unzuverlässiges Erzählen als Unterrichtsgegensand eingesetzt werden kann. Verdienstvoll ist, dass ein breites Spektrum verschiedener Medien abgedeckt wird. Die durchweg höchst lesenswerten Beiträge laden zur weiterführenden Auseinandersetzung ein. Sie bieten außerdem Handlungsvorschläge für (angehende) Lehrkräfte sämtlicher Schulformen und Altersgruppen bzw. Klassenstufen an. Gleichwohl gilt zu berücksichtigen, dass jede Lehrkraft die Didaktisierung von Unzuverlässigkeit stets an die eigene Lerngruppe anpassen und die im Sammelband aufgeführten Vorschläge nach Bedarf modifizieren muss. Schlussendlich geht es weniger um die Frage, ob einem Text Unzuverlässigkeit attestiert werden kann; relevant ist vielmehr die Stiftung von Irritationen, um einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen, der die Erzählverfahren kritisch überprüft.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
|
||