Von Lissabon nach Lwiw
Sören Bollmanns Kurzprosaband „Die Katzenfrau aus Lissabon“ beleuchtet schlaglichtartig Figuren an unterschiedlichen Orten in Europa
Von Michael Fassel
Gerüchte und Spekulationen machen die Runde, als Isabel in einer Bar in Lissabon ein Glas Wein bestellt. Die Menschen tuscheln über sie, vermuten, dass sie mehr als hundert Katzen in ihrer Wohnung hält. Andere halten das für unmöglich, es könnten auch „nur“ dreißig sein. Sicher ist, dass Isabel als verrückte Katzenfrau gilt. Die „Katzenfrau aus Lissabon“ – mitunter eine der stärksten Geschichten des gleichnamigen Kurzprosabandes – gibt Katzen aus der Ukraine ein Zuhause. Der Ich-Erzähler blickt hinter die Fassade der Katzenfrau: „Isabel war eine gebildete, politisch und historisch interessierte Frau.“ Und mit ihrer Bekanntschaft gerät er beinahe selbst in die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine. Nachdem Isabel mit ihrem PKW herrenlose Katzen aus Krisengebieten eingesammelt hat, meldet sich eine Ärztin aus einer Klinik in Lwiw bei dem Ich-Erzähler. Er solle die Portugiesin samt ihren Katzen abholen; sie liege nach einem Unfall im Krankenhaus und könne nur noch eine Woche versorgt werden.
Einige der 19 Erzählungen beziehen sich explizit auf aktuelle Krisen, sodass man Bollmanns Band auch als fragmentarische Gegenwartsdiagnose lesen kann. Es geht u. a. nach Malta, Spanien, Belgien, Schottland und nicht zuletzt nach Deutschland, wo gleich fünf Geschichten verortet sind. Doch es ist nicht nur der Krieg in der Ukraine, der die Europäer:innen in Bollmanns Kurzerzählungen bewegt. Der Autor nähert sich auch behutsam Figuren, die geprägt sind durch eine Migrationsgeschichte und versuchen, sich zu integrieren. In der Geschichte „Arabia“ versucht die aus Aleppo stammende Vara in einem Café in der andalusischen Stadt Granada die ebenso dominante wie skeptische Inhaberin Donna Elvira von ihrem Talent zu überzeugen.
Die Erzählungen enthalten teils subtile oder auch explizite politische Botschaften. In „Die Blumenverkäuferin aus Heilbronn“ sorgt sich die Protagonistin um die Verbreitung von rechtsextremem Gedankengut. Gerade in derartigen Kurzgeschichten ist die Schlusspointe resp. Schlussbotschaft zuweilen vorhersehbar. Doch auch wenn die gegenwärtigen Krisen in vielen Texten spürbar sind und nicht alle Erzählungen gut ausgehen, lassen sich die sympathischen, teils eigenwilligen Hauptfiguren als Hoffnungsträger:innen lesen.
Eindrucksvoll sind überdies Geschichten wie „Der Eisfischer“, der sich fernab der Zivilisation seinen Lebensunterhalt sichert. Der Angler aus Finnland verbringt Stunden in völliger Stille auf dem Wasser. In der einsamen Natur gehen ihm die Gespräche mit seinem Enkel durch den Kopf, der ihn irgendwann beim Fischen begleiten will. In der Kurzgeschichte „24 Stunden“ bedient sich Bollmann des magischen Realismus, der keineswegs aufdringlich erscheint, sondern Fragen der eigenen Existenz berührt:
Eines Tages, als er in seinem Büro in der obersten Etage eines Wolkenkratzers in der City in Brüssel saß und das Sekretariat verwaist war, weil seine Sekretärin zu Mittagstisch war, trat eine gute Fee herein.
Sie stellt ihn vor Wahl: Er könne sich aussuchen, ob er an einem unbekannten Tag eines grausamen Todes stirbt zu einem ihm bekannten Zeitpunkt friedlich einschläft.
Die Geschichte „Das Abschlussplädoyer vor Gericht“ sticht heraus, da sie nicht verortet wird. Es handelt sich um eine Hommage an Franz Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“, in dem ein menschlicher Affe einen Bericht über sein Vorleben einreicht. Bollmann variiert die Erzählung, indem er ein Schwein anstelle eines Affen erzählen lässt, das schwere Vorwürfe gegen die Menschen erhebt.
Die Geschichten sind in sich geschlossen und weisen doch Gemeinsamkeiten auf, die – wie der Untertitel erahnen lässt – die Vernetzung eines zusammengewachsenen Europas anhand konkreter Lebenssituationen der vielschichtig gezeichneten Figuren beleuchten.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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