Vor nichts bewahrt

Aspekte der Liebe bei Marguerite Duras, ausgehend von einem Essay des Literaturwissenschaftlers Björn Hayer und um eigene Betrachtungen erweitert

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Il faut toujours une séparation d‘avec les autres gens autour de la personne qui écrit les livres. C‘est une solitude essentielle. C‘est la solitude de l‘auteur, celle de l‘écrit.
(Marguerite Duras, À propos, Écrire)

„Grenzenlose Passion“ betitelt Björn Hayer seinen inklusive Anmerkungen 115 Seiten umfassenden Essay, erschienen 2024 in der edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag München. Die Umschlagabbildung des ästhetisch fein gestalteten Büchleins zeigt eine Fotografie Marguerite Duras’ und Yann Andréas, ihres fast vierzig Jahre jüngeren Geliebten, der mit der Autorin ihre letzten Lebensjahre verbrachte und sie „gleichsam als Muse und Sprachgefährte“ (Hayer) begleitete. In sechs Kapiteln und einer „Conclusion“ beleuchtet Hayer, Privatdozent am Institut für Germanistik der Universität Landau sowie Verfasser und Herausgeber einer Vielzahl wissenschaftlicher Schriften sowie einiger literarischer Publikationen, das Phänomen Liebe in Leben und Werk der Autorin. Stilistisch elegant und kenntnisreich geschrieben, das Thema subjektiv-flanierend umkreisend, erfüllt der Text die formalen und inhaltlichen Kriterien des gewählten Genres zur Gänze. Eloquenz und Belesenheit bieten eine Lektüre mit Gewinn.

Hayer startet seinen essayistischen Spaziergang mit einem längeren Zitat Yann Andréas, in welchem dieser über die Liebe nachsinnt – in Sätzen, die, „was Timbre, Stil und Dynamik anbelangt“, durchaus von Marguerite Duras stammen könnten. Hayer bemerkt dazu: „kreisende Worte, gefasst in eine Lakonie, die mehr aussparen als aussagen will“. „Man wäre seiner eigenen Liebe niemals gewachsen“, schreibt Yann Andréa, und weiter:

Ja, die Liebe braucht diese Geschichten, die ich zu Ihnen sage, unsere Geschichte, diese Liebe zwischen Ihnen und mir, die Sie krank macht, die Sie dazu bringt, mich verlassen zu wollen, von mir wegzugehen, als wäre das möglich. Liest man die Geschichte, so erkennt man den Versuch zu lieben.

Vieles ist angedeutet in diesen wenigen Sätzen: der Zusammenhang von Liebe und Schreiben (Geschichten erzählen), die Verbindung der Liebe zur Krankheit wie der Wunsch, ersterer zu entkommen. Ebenso die Gewalt der Liebe, die dazu führt, dass der Liebende sich in einer Unfreiheit wiederfindet, gespiegelt in der Unmöglichkeit, sich der Liebe (respektive dem/der Geliebten) zu entziehen. „Alles wurde von dir geschrieben, durch diesen Körper, den du hast“, wird Duras Yann Andréa wenige Monate vor ihrem Tod mitteilen.

Zu zweit, bemerkt Hayer, verbrachten Duras und Yann Andréa die Jahre in Duras’ fiktionalen Texten, litten mit all den Frauen ihres sich im Laufe der Dekaden immer weiter ausdehnenden imaginären Universums, Protagonistinnen, die, getrieben von Phantasmen und unerfüllten Sehnsüchten, sich ins Unglück stürzen.

„Die Unmöglichkeit des Begehrens. Liebeskonzeptionen im Werk von Marguerite Duras“, so ist „Grenzenlose Passion“ als Monographie auf der Homepage von Björn Hayer (Website der Uni Landau, Zugriff am 23.11.2024) als Publikation angekündigt – ein anderer Fokus, eine andere Schwerpunktsetzung, die die Unmöglichkeit und das Begehren stärker betont als das Grenzenlose der Passion. Zutreffend ist gewiss beides und konstitutiv für Leben und Werk der Duras sind alle vier genannten Begriffe: die Unmöglichkeit, das Begehren, die Grenzenlosigkeit und die Passion, gedacht als passio (lat.), Leiden, Leidenschaft, Martyrium, Hingabe auch.

In Anbetracht der Vielfalt des Großsujets könne es hier nur eine Annäherung geben, schreibt Hayer. Dies durchaus dem essayistischen Impetus gemäß, zu wägen, zu tasten, zu schmecken und den Gegenstand von verschiedenen Sichtweisen und Zugängen aus so sinnlich wie intellektuell wahrzunehmen. Der Essay: eine Form, die die nötige Freiheit in der Auseinandersetzung mit dem gewählten Sujet erlaubt. Zugleich kommt in Hayers Text die Wissenschaftlichkeit nicht zu kurz, eine Vielzahl der für die Thematik relevanten Autorinnen und Autoren wird zitiert: Frédérique Lebelly, Ilma Rakusa, Niklas Luhmann, Georges Bataille, Eva Illouz, Roland Barthes, Michel Foucault, Hélène Cixous und Doris Kolesch. Die Zitate werden in den Anmerkungen am Buchende nachgewiesen, nicht in Fußnoten. So bleibt es bei dem freien, leichten, flottierenden Lesegenuss. Umso störender wirkt eine Zitat-Dopplung im zweiten Kapitel „Liebe, Macht und Archetypen“: Hier wird Ilma Rakusa zu den Heldinnen in Duras’ Kosmos zitiert, die „souverän in ihrer Hingabe, ihrem Opferwillen, ihrer maßlosen Leidensfähigkeit“ seien. Duras schaffe „romantische Archetypen“, ihre „sinnlich-spröde, ‚unhierarchische‘ ecriture feminine (Hervorhebung im Original)“ sei Duras’ revolutionäre Errungenschaft: „Dank ihr gelingt ihr der Spagat zwischen Archaik und Avantgarde“ (S. 21 f.). Wortwörtlich dasselbe Zitat findet sich nur wenige Seiten später auf S. 27 (diesmal mit korrekten Akzenten bei „écriture féminine“). Diese Störung wäre, ähnlich der Irritation durch die Orthographie von „Mehrebenenspiel“ auf S. 106 (hier hätte es zwecks besserer Lesbarkeit gut getan, das Wort als „Mehr-Ebenen-Spiel“ zu schreiben), vermeidbar gewesen.Das Zitat von Ilma Rakusa spricht wesentliche Aspekte der Liebe und des Liebens bezogen auf die Protagonistinnen im Werk der Marguerite Duras an: Hingabe, Wille zur Aufopferung (vielleicht auch zum Selbstopfer), Maßlosigkeit im Leiden und überhaupt die Fähigkeit zum Leiden. Dies sind Elemente einer Sprache und Haltung der Liebe und des Liebens, die sich durchaus auch biographisch im Leben der Autorin beobachten lassen. Hayer begreift das „lebenslange() Ringen um die passenden Worte“ als ein „fortschreitendes Ertasten und Erforschen an und über die Liebe“. Sie schließe Ekstase und Zerstörung gleichermaßen ein.

So lebte sie (Duras; K. H.) auch: als unstete Wanderin des Sehnens. Sie liebte der Liebe wegen, sie folgte der Lust auf unzählige Affären. Ganz so, als gelte es zehn Leben auf einmal zu leben.

Hayer sieht in Duras’ Abenteuern und Lieben das Reservoir, aus dem sie schöpfe, mithin den Stoff, aus dem Weltliteratur entsteht. Duras halte fest, was der Wind der Zeit verweht oder was ansonsten ausschließlich dem Inneren eines erlebenden Menschen vorbehalten werde. Sie habe mit ihrer „eigenwilligen und betörenden“ Stilistik „ganze Kontinente des Sehens und Sehnens“ erfunden, sodass bereits zu Lebzeiten der Autorin von „Durasien“ die Rede war. In den Frauenfiguren Duras’ lauere die Liebe „in einer Ecke eines großen Raums voller Tretminen“. Liebe ist hier mit Brutalität, Schuld und Unschuld, Überlagerungen von Vergangenheit und Gegenwart, Selbstverlust und Selbstgewinn verknüpft.

Hayers Essay beleuchtet sowohl die Biographie als auch das literarische und filmische Werk der Autorin im Hinblick auf die Liebes-Thematik. Das der „Conclusion“ vorausgehende letzte Kapitel seines Buches widmet er dem Schreiben beziehungsweise der Liebe zum Schreiben: Sie bildet den Kern, das, woraus alles andere hervorgeht, das, worein alles andere mündet. Schreiben ist das Zentrum, ist Ausgangspunkt und Ursprung, Endpunkt und Ziel.

In einem Interview mit Michelle Porte bezeichnete Marguerite Duras das Schreiben als das „für mich Wichtigste()“ (Marguerite Duras/Michelle Porte: Die Orte der Marguerite Duras/Les lieux de Marguerite Duras). Und in einem Gespräch mit Karsten Witte verdeutlicht Duras, dass für sie das Schreiben „stärker als alle Gewalt“ ist: „Ein Schriftsteller, der nicht die Fähigkeit besitzt, alle Regeln zu verletzen, ist kein Schriftsteller“ (Marguerite Duras: Die grünen Augen).

Wie sieht es nun mit dem Schreiben aus? Es erfordert einen Raum der Einsamkeit wie auch einen konkreten Ort, eine geschlossene Tür, jenes „Zimmer für sich allein“, von dem Virginia Woolf in ihrem berühmten Essay sprach. Die Liebe zum Schreiben gründet in der Liebe zur Einsamkeit, in der Bereitschaft und Fähigkeit, alle Grenzen zu verletzen, alle Grenzen zu überschreiten – sogar die Grenzen des eigenen Selbst, der eigenen personalen Integrität und (körperlichen, seelisch-geistigen) Gesundheit. Die Liebe zum Schreiben gründet in einer „séparation par les autres gens“ – siehe Eingangszitat –, gründet in einer „solitude essentielle“, von der nur schwer vorstellbar ist, dass sie mit einer partnerschaftlichen Liebe verknüpft gelebt werden kann. Wie können existenzielle Einsamkeit und (partnerschaftliche) Gemeinschaft zusammen gedacht werden und nebeneinander und miteinander existieren?

Zugleich ist diese Einsamkeit des Autors – die strukturell, von der gesamten Konstitution und Haltung der Persönlichkeit und ihres charakterlichen Gepräges her gedacht werden muss – dasjenige Faktum, das den Schreibenden erfreut, ja, vergnügt: „Écrire, c’était ça la seule chose qui peuplait ma vie et qui l’enchantait.“

„In einem Haus ist man allein“, heißt es in dem von Marguerite Duras verfassten Prolog zu dem von Erica Lennard und Francesca Premoli-Droulers geschaffenen wunderschönen Bildband „Dichter und ihre Häuser“, der in Text und Bild jene Orte vorstellt, an welchen Schriftstellerinnen und Schriftsteller gelebt, geschaffen und gelitten haben, geleitet vom Wunsch nach Einsamkeit und dem Bedürfnis zu schreiben. Im Haus, schreibt Duras, sei man so allein, dass man manchmal daran irre werde:

Jetzt weiß ich, daß ich hier zehn Jahre geblieben bin. Allein. Und um Bücher zu schreiben, die mich und die anderen haben wissen lassen, daß ich die Schriftstellerin bin, die ich bin.

Was ich sagen kann, ist, daß die Einsamkeit von Neauphle von mir gemacht worden ist. Für mich. Und daß ich nur in diesem Haus allein bin. Um zu schreiben. Um zu schreiben, nicht wie ich es bis dahin getan hatte. Sondern um mir noch unbekannte und noch nie von mir beschlossene und nie von irgend jemand beschlossene Bücher zu schreiben.

Sie habe begriffen, dass sie als Person allein mit ihrem Schreiben sei, sehr weit weg von allem. Dieses Haus sei „der Ort der Einsamkeit“; und dennoch gehe es auf die Straße hinaus, auf einen Platz, auf einen sehr alten Teich, auf das Schulzentrum des Dorfes. Man finde die Einsamkeit nicht, man stelle sie her:

Einsamkeit stellt man allein her. Ich habe sie hergestellt. Weil ich beschlossen habe, daß ich hier allein sein sollte, daß ich hier allein wäre, um Bücher zu schreiben. So ist es geschehen. Ich war allein in diesem Haus.

Sie habe sich dort „eingeschlossen“ und dabei auch Angst gehabt. „Und dann habe ich es geliebt. Dieses Haus ist das Haus des Schreibens geworden. Meine Bücher sind aus diesem Haus hervorgegangen“. Duras kaufte das Haus in Neauphle-le-Château mit den Filmrechten an ihrem Buch „Heiße Küste“. Der Kauf sei dem „Wahnsinn des Schreibens“ vorausgegangen. Das Haus tröste sie über all ihr „Kinderleid“ hinweg. Als sie es gekauft habe, habe sie sehr schnell gewusst, dass sie damit etwas Endgültiges und Wichtiges für sich getan habe.

Begriff und Phänomen der Liebe und des Liebens bei Marguerite Duras sind somit unauflöslich mit dem Phänomen und Begriff des Ortes, des Hauses, der Einsamkeit und des Schreibens zu denken. Zum Schreiben gehört neben der existenziellen Einsamkeit und der Stille -„Pour débuter la chose, on se demande ce que c‘était ce silence autour de soi“ -  auch der bereits zitierte „Wahnsinn“ des Schreibens, die Angst, das selbstgewählte Eingeschlossen-Sein und die Absonderung und Abtrennung vom anderen und von den anderen; zugleich der Blick vom Ort des Schreibens aus auf die Welt und das andere, beziehungsweise die anderen.

Im Interview mit Michelle Porte äußert Marguerite Duras, dass sie die Filme, die sie drehe, „am selben Ort“ wie ihre Bücher mache: „Das ist’s, was ich den Ort der Leidenschaft nenne. Dort, wo man taub und blind ist. Kurz, ich versuche, soviel wie möglich dort zu sein.“ Frauen, so Duras, schrieben nicht „am selben Ort wie die Männer. Und wenn die Frauen nicht am Ort des Sehnens schreiben, dann schreiben sie nicht, sondern sie plagiieren nur“.

Kehren wir zurück zu Hayers Buch, zum Kapitel über „Die Liebe zum Schreiben“: Duras, bemerkt Hayer, arbeitete unentwegt. Durchschnittlich legte sie in ihren produktivsten Phasen ein Buch pro Jahr vor.

Yann Andréa schrieb: „Sie lebt, als ginge es jeden Augenblick ums Überleben. Ein Notfall. Als gäbe es kein Morgen, kein Danach. Als müßte man eine ständige Gegenwart leben.“ Diese von Yann Andréa beschriebene Gegenwärtigkeit fußt nach Hayer auf Verschleiß, auf bedingungslosem Selbstverbrauch: Die Arbeit reiße alles mit. Indem sie allerdings ebenso Erfüllung zulasse, wirke sie lange stabilisierend auf die Autorin. Schreiben sei für Duras nicht zuvorderst eine Kunst, sondern ein (Über-)Lebensmodell gewesen, ein (Seins-)Zustand. Schreiben bedeute „Lieben, das Aushalten der in einem selbst wirkenden Pole, das Träumen vom Ideal und dem Scheitern daran“.

Geschichten zu erzählen und aufzuschreiben, zu fabulieren, wird so zu einer Strategie des Selbsterhalts, schreiben zum einzigen Mittel, um „dem Zerfasern des Körpers und des Geistes Einhalt zu gebieten“. Im Schreiben realisiert sich „die Liebe in all ihren Facetten, Höhepunkten und Abgründen“. Und wie Duras die Dinge ihrer eigenen Aussage zufolge nicht wusste, bevor sie sie schrieb, können auch die Liebe und die Erkenntnis durch das Lieben sich nur im Akt des Liebens selber vollziehen, in der Dynamik von Hoffnung und Verzweiflung, Sehnsucht und Erfüllung, Ordnung und Rausch.

In „C’est tout“, jenem Buch, das Aufzeichnungen der letzten Tage, Aphorismen, Dialoge und Notizen der Schriftstellerin enthält und noch einmal ihre Ur-Themen – Liebe, Begehren, Trennung und Tod – in sich aufnimmt und zusammenführt, heißt es: „Das ganze Leben zu schreiben, das lehrt einen Schreiben. Das bewahrt vor nichts“. Der Tod bedeutete für Marguerite Duras zuallererst und vor allem anderen dies: nicht mehr zu schreiben. Auch hiervor wurde sie nicht bewahrt:

„Y. A.: Und was bleibt nach dem Tod?

M. D.: Nichts. Nur die Lebenden, die sich zulächeln, die sich erinnern.“

Titelbild

Björn Hayer: Grenzenlose Passion. Die Liebe bei Marguerite Duras.
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2024.
115 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783689300043

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