Im Blick der anderen
Es gibt bereits zahlreiche Biografien über den genialen Maler Camille Pissarro. Dennoch sticht Anka Muhlsteins akribisch recherchiertes und kurzweilig geschriebenes Werk „Von der Kühnheit zu malen“ aus dieser Fülle hervor.
Von Silvio Barta
Wie viel Ehrlichkeit kann ein Genie ertragen?
Zunächst jedoch müssen sich Leser:innen fragen, wie sehr die spürbare Sympathie der Autorin für ihren Protagonisten das Bild prägt. Zweifellos war Pissarros künstlerisches Schaffen einzigartig und für seine Zeit bahnbrechend. Ebenso ist sein persönlicher Einsatz für die Familie und befreundete Künstlerinnen (es gab sie schon damals tatsächlich!) und Künstler nicht zu unterschätzen. Doch trotz der klaren Würdigung dieser Aspekte bleibt eine gewisse Einseitigkeit spürbar. Die dunkleren Seiten seines Lebens werden zwar angeschnitten, jedoch selten kritisch hinterfragt oder vertieft. Gerade hier wäre eine etwas nuanciertere Auseinandersetzung wünschenswert gewesen, um Pissarro als historische Persönlichkeit umfassender zu verstehen.
Das Fremde in mir
Pissarros Leben ist maßgeblich von einem tiefen Gefühl des Fremdseins geprägt. Muhlstein zeichnet seine Familiengeschichte nach: von den sephardisch-jüdischen Ursprüngen in Portugal über die Verwurzelung einzelner Zweige der Vorfahren in Frankreich bis zur Ansiedlung nach St. Thomas in der dänischen Karibik, wo Pissarro selbst geboren wurde. Diese für viele jüdische Familien typische und generationenübergreifende Suche nach Heimat geriet im 19. Jahrhundert oft zu einer ziellosen Wanderung – so auch für Pissarro, der schließlich fast fünfzig Jahre in Frankreich verbrachte, sich aber dennoch nie wirklich heimisch fühlte.
Gleichwohl blieb für ihn der Wunsch „dazuzugehören“ zentral. „Bloß nicht anecken oder auffallen“ scheint sein stilles Credo zu sein. Er vermeidet es, sich klar zu positionieren, selbst als enge Freund:innen und Kolleg:innen im Zuge der Dreyfus-Affäre Stellung beziehen. Das Risiko, durch eine offene Haltung seine als fragil wahrgenommene Loyalität und Zugehörigkeit zu gefährden, ist ihm zu groß. Doch genau dieser innere Konflikt, der Spagat zwischen Authentizität und Anpassungsdruck, droht Pissarro schließlich innerlich zu zerreißen.
Diese Spannung wird von Muhlstein virtuos illustriert. Sie wagt es dabei, die biografische Objektivität zugunsten eines lebendigen Porträts aufs Spiel zu setzen, in dem der innere Kampf dieses Mannes um Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit greifbar wird. Dieses Wagnis, trotz der oben genannten Vorbehalte, erweist sich als vollkommen gelungen.
Demut, Transformation
Pissarros vielleicht größte Tugend war seine demütige Fähigkeit, Inspiration bei seinen Kolleginnen und Kollegen zu suchen – nicht um bloß nachzuahmen, sondern um sich synthetisch weiterzuentwickeln. Ob in jungen Jahren auf seiner Venezuela-Reise mit Fritz Melbye oder später im Austausch mit Claude Monet, Armand Guillaumin und Paul Cézanne: Pissarro hörte nie auf zu lernen und sich kritisch mit dem eigenen Schaffen sowie dem seiner Zeitgenossen auseinanderzusetzen, „seinen Stil zu ändern, seine Fehler anzuerkennen, ohne dem Drängen des Publikums nachzugeben“, wie Muhlstein schreibt. Selbst wenn er innerlich ringen musste, sich selbst treu zu sein, gelang es ihm künstlerisch stets, authentisch und zugleich dynamisch zu bleiben.
Und genau das offenbart sich, wenn wir im Museum vor einem Werk Pissarros stehen: eine völlig natürliche und selbstverständliche Intensität. Seine Bilder wirken wie Momentaufnahmen – ungezähmte Emotionalität, auf der Leinwand in einem Sekundenbruchteil eingefangen und instinktiv zu Genialität verdichtet. Muhlsteins Biografie ergänzt diesen Eindruck, indem sie das Spannungsfeld zwischen künstlerischem Selbstvertrauen und persönlichem Ringen auslotet und so den Betrachtenden eine ganz neue, tiefgreifende Perspektive auf Pissarros Werk eröffnet.
Das fünfte Porträt: Der voyeuristische Sog der Briefe
Vier Selbstporträts sind von Pissarro überliefert; Anka Muhlstein bezeichnet seine Briefe als das fünfte. Ein wesentlicher Teil ihrer Forschung stützt sich auf Pissarros Korrespondenz, vor allem jene mit seinem ältesten Sohn Lucien. Ohne die teils schmerzhafte Offenheit dieser Briefe wäre uns vieles von Pissarros Charakter und Persönlichkeit verborgen geblieben. Da er sich in der Öffentlichkeit stets äußerst vorsichtig gab, offenbaren seine Briefe eine gänzlich andere, vielschichtige Seite seiner Person.
Muhlstein versteht es virtuos, historische Ereignisse mit Auszügen aus Pissarros Briefen zu verknüpfen und durch fundierte Annahmen zu bereichern. Der so entstehende Sog zieht uns schnell in eine Bahn aus Neugier und Überraschung. In Pissarros Leben und Werk spiegelt sich das Fremde in ihm als steter Begleiter, ein inneres Gefühl der Entwurzelung, das sowohl sein künstlerisches Schaffen als auch seine persönliche Haltung formt. Die rastlose Suche nach Heimat und Zugehörigkeit hinterlässt Spuren in seinem Oeuvre und prägt ein komplexes Selbstverständnis. Dadurch entsteht ein Zwischenraum, in dem das Fremde in ihm sichtbar wird – eine innere Welt, die uns, dank Muhlsteins brillanter Biografie, Pissarros Werke ganz neu betrachten lässt.
Man mag sich fragen, wie ein anderer Pissarro uns heute begegnen würde, hätte er selbst den Ratschlag befolgt, den er einst seinem Sohn Georges gab: „Verwirkliche deine Pläne ohne Regeln oder zumindest ohne Regeln, die dir missfallen.“
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