Der Abgrund reißt beiläufig auf

In ihrem Kurzgeschichtenband „Das Wiedersehen“ erzählt die Pulitzer-Preis-Trägerin Jhumpa Lahiri virtuos von Entfremdung und Verlust in der spätmodernen Gegenwart – und lässt erahnen: Es gibt etwas, das uns alle verbindet

Von Thomas JordanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Jordan

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass es schwierig wird mit dem menschlichen Zusammenleben wenn gegenseitige Wertschätzung fehlt, wenn statt Anteilnahme und Respekt Ablehnung und Desinteresse herrschen, ist nicht nur in unzähligen Ratgebern tief gefühlt, sondern spätestens seit Axel Honneths Gesellschaftstheorie der Anerkennung plausibel begründet worden. Zugleich steht menschliche Begegnung in der Moderne von Beginn an unter dem Eindruck des Unvertrauten und Andersartigen. Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist Entfremdung der gesellschaftliche wie literarische Normalfall. Man braucht dazu nur einen Blick in die Großstadtschilderungen von Poe und Baudelaire mit all ihren Flaneuren und Passantes zu werfen. In der digitalen Gegenwart bilden wechselseitiges Unverständnis, gepaart mit emotionaler Bedürftigkeit das spätmoderne Hintergrundrauschen. In dieser unübersichtlichen Lage entzündet Jhumpa Lahiri mit ihrem Kurzgeschichtenband „Das Wiedersehen“ (deutsche Übersetzung von Julika Brandestini) ein literarisches Lagerfeuer und beginnt zu erzählen. Von langjährigen Freundinnen, von Mann und Frau, von Vater und Sohn. Und davon, wie sich ein Spalt auftut zwischen diesen Menschen, wie Vertrauen verpufft und das unsichtbare Band reißt, das ihren Alltag zusammenhält. Und wie sich am Ende ein Abgrund an Fremdheit gebildet hat. So tief, dass ihre Figuren darin versinken können.

In der titelgebenden Kurzgeschichte beginnt es mit einem Wort. „Moretta“. Das kann – vor allem in der Region der italienischen Hafenstadt Fano in den Marken – einen mit Anisschnaps angereicherten Espresso bezeichnen. Es kann aber auch die abwertende Bezeichnung für ein dunkelhäutiges Mädchen sein. In Jhumpa Lahiris Erzählung erzeugt das Wort einen Riss im sozialen Gefüge zweier langjähriger Freundinnen, der sich im Laufe der Geschichte immer weiter vergrößert und am Ende nur die Ruine einer Beziehung übriglässt. Dabei stammt das Wort weder von der einen noch der anderen. Es ist die Inhaberin einer römischen Trattoria, die es der einen, einer Universitätsprofessorin, bei der Aufnahme der Bestellung an den Kopf wirft. Eine kleine, alltägliche Bösartigkeit, so scheint es zunächst. Subtil führt die Erzählerin vor, wie das Wort in die Beziehung der beiden Freundinnen einsickert und sein Gift verbreitet. Moretta, das ist die schwarze Maske, die vornehme Venezianerinnen im Karneval seit dem Frühbarock zu stummen, schwarzen Dienerinnen macht. Nur, dass Jhumpa Lahiris Hauptfigur sich nicht aus freien Stücken verhüllt, sondern ihr die Maske der Moretta von einer Fremden ins Gesicht gedrückt wird. Wie Jhumpa Lahiri dem Gefühl der Abwertung nachspürt, das die rassistische Zuschreibung auslöst, ist filigrane Erzählkunst.

„Und was bringen wir der moretta?“ fragt die Wirtin brüsk, ohne die Professorin anzusehen.“ Für einen Moment ist die hochgewachsene, elegante Frau sprachlos. „Nach ein paar Sekunden antwortet sie: „Ich nehme dasselbe.“, wobei ein unangenehmes Gefühl sie überkommt, ähnlich dem, wenn man die federleichten, aber spitzen Beine eines Insekts auf der Hand spürt.“

Hier wird deutlich, wie zerstörerisch das Wort der Wirtin wirkt. Es entfremdet die Figuren nicht nur voneinander, sondern erzeugt bei der Angesprochenen auch das krabbelnde Grauen der Selbstentfremdung. Die Rede von der „moretta“ rückt ihr auf den Leib und kriecht in ihre Gedanken. Am Ende liegt nicht nur ein Abgrund zwischen den beiden Freundinnen, sondern in der Protagonistin selbst. Es ist diese dichte Beschreibung alltäglicher Situationen und ihrer existenziellen Abgründigkeit, die Jhumpa Lahiris Erzählband zu einem berückenden Erlebnis macht.

Auch Lahiri schreibt sich in die Tradition der modernen Großstadtprosa ein. Statt Paris, Prag oder Berlin spielen ihre Geschichten aber in Rom, und die Kronzeugen ihrer Prosa sind nicht Simmel und Freud, sondern Ovid und Vergil. Dafür braucht es bei der amerikanischen Autorin indischer Abstammung aber kein Schreckensszenario. Selbstentfremdung ist hier kein grotesker Käfer, Ausgrenzung kein nächtliches Irrlichtern durch Berlin. Der soziale Abgrund reißt beiläufig auf, der Riss vertieft sich im Geplänkel zwischen Pasta und Espresso. Oder er zeigt sich an der Freude über das Flattern einer zerschlissenen Markise im Wind. „Es heisst, eine helle Wohnung verändert dein Leben“. So beginnt der Vater einer sechsköpfigen Familie, die aus der nervenaufreibenden römischen Innenstadt in ein Vorstadtviertel zieht, seine Erzählung. Zum ersten Mal können sich die jungen Eltern ein eigenes Schlafzimmer leisten und wenn der Vater dort, vom Bett aus, das flatternde Stück Stoff vom Nachbarbalkon betrachtet, dann vergisst er den Krieg und die Flucht aus seinem Heimatland. Es ist die Hoffnung auf einen Neuanfang und die unbezwingbare Sehnsucht nach Leben, die aus dem Familienvater spricht. Was dann folgt, ist der soziale Tod auf Raten. Erst tuscheln die anderen Bewohner des Mietshauses über die Großfamilie mit der verschleierten Mutter. Dann versperren sie ihr den Weg. Schließlich zwingen sie sie in die Flucht. In sanfter poetischer Unerbittlichkeit zeigt Jhumpa Lahiri in ihrem Kurzgeschichtenband immer wieder auf, wie die Fremdheit zwischen Menschen am Selbstkonzept der Menschen nagt. So wie die Tochter, die sich von ihren Eltern so wenig verstanden fühlt, dass ihr das Schweigen bei gemeinsamen Aktivitäten vorkommt wie ein „diskreter Verwandter, der unter uns lebte, der aus seinem Zimmer zu den Mahlzeiten herunterkam, der sich nur bei uns aufhielt, wenn wir beisammen waren, und dem gegenüber wir uns respektvoll und aufmerksam verhalten mussten.“ Oder die joggende Expat, deren Fremdeln mit der Stadt und der römischen Lebensweise in der Angst kulminiert, sich selbst zu verlieren. Im schlimmsten Fall kann die Selbstentfremdung bei Lahiri tödlich ausgehen: Etwa wenn aus dem fürsorglichen migrantischen Familienvater ein zerzauster Obdachloser wird, der delirierend auf den Bahngleisen liegt und auf den herannahenden Tod wartet.

Nun kann man Jhumpa Lahiri vorwerfen, dass ihre Geschichten immer ein wenig zu glatt aufgehen und ihre Botschaft ein wenig zu didaktisch daherkommt. Ganz freisprechen kann man sie von diesem Vorwurf nicht. Wie es der Autorin aber gelingt, in diesen parabelartigen Miniaturen den Kern menschlicher Existenz zu umspielen, ist faszinierend. Etwa in der Geschichte vom Leben und Sterben des migrantischen Familienvaters: Hier schimmert das filigrane Gewebe der wechselseitigen Anerkennung durch, diese Mischung aus Respekt, Wertschätzung und Liebe, die jeder Mensch zum Leben braucht. Und manchmal gelingt es Lahiris Figuren auch – und sei es nur für einen Moment – sich gerade wegen ihrer Fremdheit in das große soziale Gewebe der Anerkennung einzufädeln. So wie die junge AirBnB-Gastgeberin, die erst in der Begegnung mit den Fremden, in der Teilhabe am Leben der Anderen, eine Ahnung von Familienglück erfährt. Hier zeigt sich Lahiris Poesie der kleinen Dinge:

Früh am Morgen gehe ich in den Hühnerstall, um die Eier einzusammeln. Sie sind warm, blass und schmutzig. Einige davon lege ich in eine Schale und bringe sie den Gästen zum Frühstück. Normalerweise begegne ich niemandem und stelle sie auf den Tisch im Hof, doch als ich am Haus ankomme, sehe ich durch die Schiebetür, dass die Kinder bereits wach sind. Ich sehe Kekspackungen auf dem Sofa verstreut, Krümel, eine umgekippte Müslipackung auf dem Couchtisch.

Krümel als Symbole sozialen Glücks, zerschlissene Markisen als Metaphern der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.Jhumpa Lahiri überschreibt die Grenze von Kleinem und Großem, von Banalem und Bedeutsamen in ihren Geschichten virtuos. Dabei funkeln in all diesen Details und Alltagsbegegnungen Versatzstücke eines neuen Anfangs. Denn das ist das große Versprechen, das Jhumpa Lahiri ihren Lesern am Lagerfeuer macht: Es gibt etwas, das uns alle verbindet. In den brüchig gewordenen Selbstkonzepten ihrer Protagonisten wird Gemeinsamkeit erkennbar. Es ist eine Art Intimität der Fremdheit, die ihre Figuren verbindet. Das Verständnis für die individuelle Verlusterfahrung, egal aus welchem Land oder aus welcher Schicht die Figuren stammen. Lahiris Leser werden auf diese Weise zu Komplizen auf der Suche nach der verlorenen Anerkennung, zu Vertrauten des Leidens an der eigenen Fremdheit.

Titelbild

Jhumpa Lahiri: Das Wiedersehen. Römische Geschichten.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2024.
288 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003685

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