Ninive und London – weit entfernt und doch ganz nah

Elif Shafak verbindet im Roman „Am Himmel die Flüsse“ gekonnt Jahrhunderte sowie Flüsse, Städte, Menschen

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elif Shafaks Romane sind Gemälde von großer Pracht, reich an Farben und Gerüchen, Geschichten und Geheimnissen. Zu Beginn ihres Romans Am Himmel die Flüsse kehrt sie ganz weit zurück: Nach Ninive zu Urzeiten, in jenen Sommer, in dem ein heftiger Sturm alles zerstörte und vernichtete und sich ein Regentropfen, der dem König Assurbanipal auf den Kopf fiel, auf eine lange Reise durch die Jahrtausende und bis ins Heute machte. In der Bibliothek des Königs befand sich ein Gedicht, das vom Helden Gilgamesch handelt, „so alt und bekannt, dass man es sich in Mesopotamien und Anatolien, in Persien und in der Levante immer und immer wieder erzählt hat“. Der Roman, so viel sei verraten, wird mehr als 2500 Jahre später 2018 in London enden, doch der ewige Kreislauf wiederholt sich weiter – „von flüssig zu gasförmig zu fest“.

Bis dorthin folgen die Leser:innen auf beinahe 600 Seiten den Geschichten von Arthur, Narin und Zaleekhah. Arthur kommt im früh einsetzenden Winter 1840 in London in äußerst ärmlichen Verhältnissen zur Welt – bei seiner Geburt setzt sich eine Schneeflocke auf sein Gesicht. Erst sieht es für den Jungen schlecht aus in dieser Welt, er dürfte froh sein, wenn er überlebt. Doch Arthur hat Glück. Er ist gescheit, ja noch viel mehr: Er hat ein phänomenales Gedächtnis, das auch Mr Bradbury und Mr Evans überzeugt, als Arthur mit seinem Vater in der Königlichen Hofdruckerei Bradbury & Evans auftaucht, um dort einen Arbeitsplatz für seinen Sohn zu bekommen. Arthur kann tatsächlich bleiben. Täglich schuftet er von morgens bis abends und bringt den Lohn immer nach Hause, für sich behält er kaum etwas. Gedankt wird ihm dort allerdings nicht. Eine gewisse Wertschätzung erfährt Arthur jedoch in der Druckerei, genauso Schutz vor dem gewalttätigen Vater. Als Mr Bradbury ihn einmal fragt, was mit seinem Gesicht sei, und er antwortet, er habe einen Unfall gehabt, meint Mr Bradbury:

Sag dem Unfall, dass wir dir nichts zahlen, wenn er dir noch einmal zu nahe kommt. Wenn wir auch nur einen Kratzer an dir sehen, verschwindet das Geld ganz schnell. Das würde Mr Unfall sicherlich nicht gefallen.

Arthurs Hunger nach Wissen führt ihn bald ins British Museum, wo er sein ungewöhnliches Talent einsetzen kann, um die zerbrochenen Tafeln mit den bisher unleserlich gebliebenen Kritzeleien zu entziffern, was bei Arthur größte Faszination auslöst. Bald schon ist ihm klar, dass er dorthin reisen will, wo diese Tafeln gefunden wurden, um alles vollständig und ganz genau zu entdecken.

Narin – von ihr handelt der zweite Erzählstrang im Jahr 2014, bei ihr findet sich der Wassertropfen in der Trinkflasche – entdeckt in Hasankeyf, dem antiken Castrum Kefa am Tigris, wo sie mit ihrer Großmutter lebt, das Grab von Arthur direkt neben dem ihrer Urgroßmutter Leila. Im Lauf des Romans entflicht sich die Geschichte von Arthur und Leila, eine Liebe der besonderen Art, eng verbunden mit brutalen Gewalthandlungen, gehören doch Leila sowie Narin und ihre Großmutter zu den Jesiden – im Roman Eziden genannt –, die als Teufelsanbeter:innen verfolgt werden. Narin bricht mit ihrer Großmutter ins Gebirge auf, um an einem ungestörten Ort getauft zu werden. Doch in diesem August 2014 fallen die IS-Terroristen in das traditionell von Eziden bewohnten Sindschar-Gebiet im Nordirak ein, morden grausam und vertreiben die Überlebenden.

Dass Narin überlebt hat, erfahren wir am Schluss des Romans, als Zaleekha, die dritte Hauptfigur dieses Romans, 2018 zusammen mit ihrer Freundin Nen ans Ufer des Tigris fährt. Es ist der Tag, an dem die Schleusen geöffnet werden und das Wasser durch die fertig gebaute Talsperre schießen wird, der Pegel des Stausees steigt stetig an. Bis Ende des Jahres wird Hasankeyf, das antike Castrum Kefa, komplett geflutet sein.

Die Hydrologin Zaleekha mit irakischen Wurzeln lebt in London, wo sie nach einer gescheiterten Ehe auf ein Hausboot zieht und dort ihren Selbstmord in der Themse plant. Aufgewachsen ist sie bei ihrem Onkel und ihrer Tante, nachdem die Eltern vor ihren Augen ertrunken sind – eine traumatische Erfahrung, die sie ein Leben lang begleitet hat. Trauer und Verzweiflung sammeln sich in ihren Tränen, den Wassertropfen, die die Verbindung zu Arthur und Narin bilden. Als Zaleekha endlich – von Nen unterstützt – erkennt, dass sie sich ihrer Geschichte stellen muss, setzt sich etwas in ihr in Bewegung, dessen Ende jedoch offenbleibt. In ihren Forschungen konzentriert sich Zaleekha auf die oft verschmutzten und verbauten Flüsse und arbeitet an einer Studie über das Wassergedächtnis. Hier liegt denn auch eine Kernaussage des Romans: «Das Wasser erinnert sich. Nur die Menschen vergessen.»

Im opulenten Roman von Elif Shafak, in dem sie gegen das Vergessen der Menschen anschreibt, verbinden sich die Schicksale von drei Heimatlosen auf faszinierende Weise. Die türkische Autorin, die seit vielen Jahren in London lebt und auf Englisch schreibt, überzeugt einmal mehr mit Sprache und Erzählfuror. Ihre Geschichten werden beim Lesen vor dem inneren Auge buchstäblich lebendig. Mit allen Sinnen tauchen die Leser:innen ein in die Welten der Protagonist:innen: Die dreckigen Elendsviertel in London sind zu riechen, die ausgedorrten Felder in Mesopotamien ebenso, wenn auch ganz anders. Nicht zu unterschätzen sind die kulturhistorischen Hintergründe und politischen Zusammenhänge, die Elif Shafak gekonnt in ihre Erzählungen einbaut. So entsteht großer Lesegenuss, der gleichzeitig aufrüttelt und nicht zuletzt zur Erkenntnis führt, dass die Geschichte in ihren Zusammenhängen nicht vergessen werden darf.

Titelbild

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Michaela Grabinger.
Carl Hanser Verlag, München 2024.
592 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783446280083

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