Orientierungsversuche im Meer der Illustrationen
Elke Riemer-Buddecke legt mit „E.T.A. Hoffmann – Porträts und Illustrationen“ einen umfangreichen Katalog vor
Von Thorsten Schulte
Elke Riemer-Buddecke beforscht seit über vier Jahrzehnten die Illustrationsgeschichte. Ihr Interesse gilt insbesondere den Porträts von E.T.A. Hoffmann sowie den in großer Anzahl entstandenen Illustrationen seiner Werke. Riemer-Buddecke promovierte 1973 zu E.T.A. Hoffmann und seinen Illustratoren, publizierte ihre Arbeit drei Jahre später und legte damit einen in der Hoffmann-Forschung beachteten Katalog vor, der häufig als Standardwerk bezeichnet wird. 2014 entschloss sie sich wegen der immensen Menge von Künstlern und der zwischenzeitlich entstandenen Anzahl von neuen Hoffmann-Porträts und Illustrationen, die Arbeit an ihrem Katalog fortzusetzen. Mit E.T.A. Hoffmann – Porträts und Illustrationen liegt nun das Ergebnis von zehn weiteren Forschungsjahren vor: Ein Katalog, der über 900 Illustratoren umfasst. 134 Künstler von Hoffmann-Porträts werden aufgelistet. Mehr als 300 Abbildungen begleiten die Ausführungen von Elke Riemer-Buddecke, darunter sensible Aquarelle, subtile Bleistiftzeichnungen, surreale Scherenschnitte, kolorierte Holzstiche, minimalistische Federzeichnungen und leuchtende Acrylgemälde. Die Vielfalt der künstlerischen Illustrationen ist enorm. Der Abbildungsteil des Katalogs ist beeindruckend.
Entsprechend herausfordernd ist es, einen Überblick zu bekommen. Elke Riemer-Buddecke versucht ihre Leserinnen und Leser durch diese Vielfalt zu führen. Um die Orientierung im Meer der Illustrationen zu verbessern, hat sie ein Ranking erstellt. Riemer-Buddecke sortierte hierfür einzelne Werke Hoffmanns nach ihrer Beliebtheit unter Illustratoren, „indem aufgezeigt wird, wie viele Illustratoren diese jeweils gefunden haben“. Es entsteht eine Chartliste: Platz 1 erhält demnach Nussknacker und Mausekönig mit 301 Illustratoren in Deutschland und insgesamt 532 Illustratoren weltweit. Auf Platz 2 folgt Der goldene Topf. Das Ranking umfasst 61 Werke, wobei die Plätze 6 und 7 irrtümlich vertauscht wurden. Die Plätze 1 bis 37 werden ausführlicher vorgestellt, bei jeder einzelnen Vorstellung geht die Autorin jedoch unterschiedlich vor. Manchmal beginnen die Ausführungen mit einer ausführlichen Inhaltsangabe der Erzählung Hoffmanns, manchmal fehlt sie – beispielsweise im Kapitel zu Der Sandmann. Im Mittelpunkt einiger Kapitel stehen verschiedene Interpretationsansätze. Der Abschnitt zu den Lebens-Ansichten des Katers Murr betont die Einschätzungen verschiedener Forscher zur Bedeutung des Romans. Einzelne Künstler und Illustrationen werden stets genau vorgestellt und beschrieben, viele mit Verweisen zum großen farbigen Abbildungsteil. Andere werden zwar aufgezählt, ihre Werke jedoch nicht näher erläutert. Angesichts der Fülle der Illustrationen ist die Notwendigkeit einer Auswahl verständlich. Warum abseits persönlicher Vorlieben einzelne ausgewählt und andere nicht beachtet werden, bleibt allerdings unklar. Ein Beispiel: Hugo Steiner-Prag zählt zu den bekanntesten Hoffmann-Illustratoren. Seine werkgetreuen Radierungen sind düstere Meisterwerke. Elke Riemer-Buddecke hat trotzdem keines seiner Bilder in den Abbildungsteil aufgenommen.
Außerdem schrieb Steiner-Prag eine kleine Erzählung unter dem Titel Besuch um Mitternacht, in welcher er ein Treffen mit E.T.A. Hoffmann imaginierte. Riemer-Buddecke spricht sie nur am Rande an. Die Erzählung wäre einen genaueren Blick wert gewesen, erläutert hier doch ein großer Illustrator, wie Dichter und Zeichner aus seiner Sicht interagierten, ein wichtiges Thema des Katalogs von Riemer-Buddecke. E.T.A. Hoffmann bezeichnete es in einem Brief als großen Gewinn, wenn Dichter und Zeichner sich „einander recht in die Hand arbeiten können“. In jenem Brief aus dem Jahr 1819 betonte Hoffmann darüber hinaus, dass „Ramberg mit seinen ewig wiederkehrenden nichts bedeutenden Formen und Gesichtern […] ein wahrer Greuel ist.“ Diese grundsätzliche Abneigung Hoffmanns gegenüber Johann Heinrich Ramberg wird im kurzen Exkurs von Elke Riemer-Buddecke zu den Illustrationen von Das Fräulein von Scuderi nicht deutlich. Die Autorin schreibt, Hoffmann sei lediglich mit Rambergs Illustration „ausgerechnet“ der Mordszene nicht einverstanden gewesen.
Dass ungeachtet derlei Spitzfindigkeiten und kleiner Ungenauigkeiten die vorliegende Datenmenge gewissenhaft zusammengetragen wurde und Germanisten Elke Riemer-Buddecke für die Publikation des Katalogs dankbar sein werden, steht außerfrage. Zugleich muss der Autorin viel geglaubt werden, denn an einigen Stellen bleiben Behauptungen ohne Belege, die Bildnachweise sind unvollständig, ihre Beschreibungen sind sehr subjektiv. Sie wertet, ein Aquarell sei „brillant“, ein Bild „überzeugend“, freut sich über „ungewöhnliches“ und urteilt spürbar überrascht über eine Comic-Adaption, sie sei „meisterhaft und in erstaunlicher Intensität“. Zweifelhaft sind Aussagen wie: „Für den russischen Menschen ist ein Buch ohne Bilder ein Mangelexemplar.“ Von Beginn an gesteht die Autorin, dass ihre Ausführungen nicht wertungsfrei sind, „persönliche Vorlieben eingeschlossen“. Die Autorin entwirft empathisch ihre eigene Identität der Werke Hoffmanns.
Elke Riemer-Buddecke strebt die Vollständigkeit an, diese sei aber kaum zu erreichen und die Arbeit hieran gleiche einer Sisyphusarbeit. „Mut zur Lücke ist also das Gebot der Stunde“, schreibt sie. Sie bemüht sich, eine möglichst ausgewogene Mischung zwischen bekannten und weniger bekannten Künstlerinnen und Künstlern zu finden. Damit bleibt ihr Buch ein sehr persönlicher Versuch einer Orientierung im Meer der Illustrationen. Vor allem Bücher hat die Autorin untersucht. Auch Gemälde, Comic-Zeichnungen und Illustrationen auf Pinterest finden Erwähnung. Allerdings wurde beispielsweise die Sandmann-Illustration von „JoppeldiHoppel“ (eines jungen Zeichners, der seine Skizzen auf Pinterest postet) nicht in den Abbildungsteil aufgenommen und ist online nicht zu finden. Ohne nähere Quellenangabe muss der Lesende somit auch hier der Aufzählung der Autorin schlicht vertrauen. Denn in ihrem „Ranking“ aller Illustratoren steht bei allen Künstlerinnen und Künstlern nur ein Datum und ein Name, manchmal mit einem Klammerzusatz, beispielsweise „(Comic)“, in diesem Fall: „2019 JoppeldiHoppel (Pinterest)“. Es müsste bei Interesse selbst recherchiert werden.
Ein Hauptverdienst des Bandes ist es, in vielen Facetten darzulegen, was Illustration ausmacht. Klein Zaches genannt Zinnober haben Künstler „mit sichtbarer Freude an satirischer und oder märchenhafter Phantastik“ illustriert. Illustrationen zu Das Fräulein von Scuderi neigen „zu einer psychoanalytischen Sicht, versuchen die inneren Konflikte“ der Hauptpersonen sichtbar zu machen. Riemer-Buddecke zeigt auf, welchem Künstler es gelungen ist, die Grenzen zwischen realer und fantastischer Welt auszuloten. Es wird deutlich, wie Utopie und Realität mit den Schauplätzen Atlantis und Dresden im Kunstmärchen Der goldene Topf verwoben sind. Es gibt ein Verlangen, die Szenen aus Hoffmanns Texten zu sehen. Der Abbildungsteil befriedigt es. Das Sehen erzeugt Nähe. Zwischen den Beschreibungen und den Abbildungen zu springen, erzeugt echten Lesegenuss.
Bewegte Bilder hätten den ohnehin großen Umfang des Buches gesprengt. Filmische Adaptionen und die Inspiration etlicher Filme sowie die Bearbeitung von Hoffmanns Motiven in verschiedenen Filmen blendet die Autorin daher aus nachvollziehbaren Gründen aus. Gleichwohl muss kritisiert werden, dass Elke Riemer-Buddecke zwar sogar Grafik-Mappen, freie Arbeiten und bis zu Social Media Kanälen wie Pinterest suchte und untersuchte, Hörspiele jedoch unbeachtet blieben. Hörspiele gehören zur zeitgenössischen Illustrationskunst. Schließlich entsteht auch hier die enge Wort-Bild-Beziehung, welche Hoffmann-Forscher Sahib Kapoor in seiner Arbeit E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) und seine Darstellung in expressionistischen Buchillustrationen untersuchte. Als Beispiel für künstlerische Editorial-Illustrationen sei hier die Hörspiel-Serie Gruselkabinett (Titania Medien) genannt. Der Sandmann erschien als Folge Nr. 42. Ihr Cover zierte der Automat Olimpia, in welchen sich Nathanael in E.T.A. Hoffmanns Erzählung verliebte. Die künstlichen Armgelenke Olimpias sind deutlich zu erkennen, ein Auge fehlt, Blut fließt aus der leeren Höhle – ein bemerkenswertes Portrait, eine bildkünstlerische Interpretation. Es wurde von Firuz Askin gezeichnet. Askin hat eine große Popularität erreicht. Insgesamt schuf Askin circa 1.000 Cover-Illustrationen für Western-Erzählungen, Krimi-Hefte und gruselige Geschichten. Im Jahr 2023 erschien Der Ghoul als Folge Nr. 186, nach Hoffmanns Erzählung Vampyrismus. Das Titelbild stammt von Osmar Askin, dem Sohn des verstorbenen Firuz Askin. Osmar und Firuz Askin sind in Riemer-Buddeckes Werk nicht bedacht – und seien hier nur stellvertretend genannt für etliche Illustratoren weiterer Hörspiele und Hörbücher: Die Erzählungen E.T.A. Hoffmanns wurden als Grundlage für Lesungen des NDR, RBB, SWR, und HR mit Gerd Wameling, Christian Brückner, Peter Matić, und dem außergewöhnlichen Jens Wawrczeck genutzt. Im Jahr 2022 erschien eine Hörbuchsammlung der bekanntesten Werke Hoffmanns. Unter ihnen finden sich außergewöhnliche, sehenswerte Illustrationen.
Riemer-Buddecke berichtet in ihrem Buch, dass in der Illustrationsgeschichte manchmal die Fülle der Illustrationen bedauert wird, weil sie Leser bevormunden könnten und ihre Fantasie lenkten. Dabei sei die Illustration doch ein zusätzliches Deutungsangebot, sie „kann eine Bereicherung der eigenen Perspektive oder auch eine Herausforderung sein“ – zumal Hoffmann gerne intertextuell vorgegangen sei und häufig die Perspektive wechselte. Hinzu kommt, dass Hoffmann selbst malte. Er war der erste Illustrator seiner eigenen Geschichten. Im Falle der Erzählung Der Sandmann zeichnete Hoffmann sogar zuerst die Illustrationen und schrieb anschließend den Text. Hoffmann würde sich vermutlich über die Menge der Künstler freuen, die sich mit seinem Werk befasst haben.
E.T.A. Hoffmann – Porträts und Illustrationen ist ein Konglomerat von heterogenen Bausteinen und Bruchstücken. Die Untersuchung der Hoffmann-Illustrationen könnte daher auf dem Fundament von Elke Riemer-Buddecke weitergeführt und ausgebaut werden. Manche Fragen werden in Riemer-Buddeckes Buch nur aufgeworfen und verlangen geradezu danach, näher betrachtet zu werden.
Das Zitat von E.T.A. Hoffmann ist aus einem Brief an den Schriftsteller Stephan Schütze in Weimar vom 17. Februar 1819 entnommen. Quelle: Stiftung Preußischer Kulturbesitz; Staatsbibliothek zu Berlin.
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