Oft totgesagtes Jahrhundertphänomen

In seiner Gesamtdarstellung „Das lange Leben der Avantgarde“ zieht Wolfgang Asholt eine Bilanz seiner jahrzehntelangen Forschung

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 1974 erschien in der edition suhrkamp ein pinkfarbenes Bändchen mit dem Titel Theorie der Avantgarde. Der Autor Peter Bürger entwickelte darin in streng marxistischer Argumentation seine These vom Scheitern der europäischen Avantgarde. Unter diesem Begriff verstand er eine Bewegung, die danach strebte, die Trennung von Kunst und Lebenspraxis zu überwinden und von der Kunst her das Leben zu verbessern. Gescheitert sei dieses Projekt, weil es die Avantgarde nicht erreicht habe, die Grenzen der Institution Kunst zu überwinden. Der Avantgarde sei es zwar gelungen, einen neuen Typus von Kunstwerk zu schaffen, den er „nicht-organisch“ nennt und als primär form- und materialbezogen beschreibt. Damit sei aber die „Distanz der Kunst zur Lebenspraxis“ nicht überbrückt worden, sondern es sei allenfalls für die Rezeption der Kunstwerke ein neuer Modus geschaffen worden.

Auf die Kritik, die seine Theorie provozierte, ist Bürger bereits 1982 im Nachwort zur zweiten Auflage seines Werks kursorisch und später ausführlich eingegangen. Auch heute gilt der Band noch als lesenswert, worauf eine um einige Texte erweiterte Neuauflage (2024) im Wallstein-Verlag hinweist. Im selben Verlag erschien die hier zu besprechende Monographie von Wolfgang Asholt, mit der der Autor eine Bilanz seiner Jahrzehnte währenden Avantgardeforschung vorlegt. Es kann von einem großangelegten Versuch gesprochen werden, Bürgers ‚Große Erzählung‘, die eine erstaunliche „Dominanz“ bekommen habe, zu revidieren und im Licht der Entwicklungen nachfolgender Jahrzehnte eine neue Avantgarde-Theorie vorzulegen.

Rein äußerlich sowie hinsichtlich der Textgestalt unterscheidet sich Asholts Werk signifikant von der knappen Abhandlung Bürgers. Während dieser seinen Text durch einige beispielhafte Abbildungen illustrierte, verzichtet Asholt völlig darauf. Sein Buch wendet sich erkennbar an ein geduldiges, mit der Materie vertrautes Fachpublikum, das möglichst vollständig über die Avantgarde-Debatten der letzten Jahrzehnte orientiert werden möchte und sich von annähernd 450 Seiten Text und von der durch viele englische Zitate entstehenden Sprachmischung nicht abschrecken lässt. Französische Zitate werden ins Deutsche übersetzt und in Fußnoten in der Originalsprache wiedergegeben. Das Umschlagbild von Asger Jorn, das den Titel trägt „L’Avantgarde ne se rend pas“ (etwa: Die Avantgarde ergibt sich nicht oder gibt nicht auf) weckt eine Erwartung von Anschaulichkeit, die nicht erfüllt wird. Durch den Untertitel wird man hingegen auf „Theorie-Geschichte“ eingestimmt.

Inhaltlich geht es dem Autor darum, die Geschichte der Avantgarde bis zur unmittelbaren Gegenwart nachzuzeichnen, zu gliedern und theoretisch zu erfassen. Er unterscheidet die historische (literarisch-künstlerische) Avantgarde, die die Autonomieästhetik der Moderne überwinden wollte, von einer nach dem Zweiten Weltkrieg sich entfaltenden Neo-Avantgarde, die sich mit dem Scheitern ihrer Vorgänger auseinanderzusetzen hatte und daraus lernen wollte. In unserer Zeit hätten wir es nun, so Asholt, mit einer globalen Zweiten Avantgarde zu tun, die auch mit dem Begriff „KunstAktivismus“ bezeichnet werden könne. Statt wie Bürger von der Institution Kunst spricht Asholt vom „literarisch-künstlerischen Feld“ im Sinne Pierre Bourdieus. Und statt auf Marx, Lukács und Adorno bezieht er sich in seinem theoretischen Ansatz vor allem auf Cornelius Castoriadis und Arjun Appadurai.

Von Castoriadis übernimmt er den Begriff des „radikalen Imaginären“, das in den Manifesten der Avantgardisten propagiert werde und dem durch die avantgardistischen Manifeste und Kunstaktionen der Weg in die Wirklichkeit bereitet werden sollte. Die verschiedenen –ismen (Futurismus, Dadaismus, Surrealismus usw.), Bewegungen und Gruppierungen der Avantgarden, die Asholt porträtiert (darunter auch das Bauhaus), werden daran gemessen, inwiefern sie einem radikalen Imaginären zur „Emergenz“ verhelfen könnten. Eine Rolle spielt dabei ihr Verhältnis zu den politischen Avantgarden: Etwa des russischen Konstruktivismus zu den im Bürgerkrieg siegreichen Bolschewisten, deren Herrschaft sich schon bald im Stalinismus verhärtete. Künstler (wie beispielsweise Majakowski), die das radikale Imaginäre gestalten wollten, gerieten bald unter Verdacht und wurden einer politisch gelenkten Doktrin unterworfen. Auf der anderen Seite ließ sich das Bauhaus seit seiner Neuausrichtung 1923 von der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft vereinnahmen.

Von Appadurai übernimmt Asholt die Begriffe „Scapes“ und „Flows“ (Landschaften und Ströme), die ihm dazu dienen, gewandelte weltpolitische Verhältnisse kategorial zu erfassen und darauf bezogene Kunstereignisse zu beschreiben. Die Bedeutung der Avantgarden habe sich damit fundamental verändert: „Mit der Imagination wird auf die globale Fragmentierung, Ungewissheit und Differenz reagiert, aber die immer neuen Reaktionsweisen und Notwendigkeiten gestatten keine Entfaltungsmöglichkeiten für ein radikal Imaginäres.“ Diese Aussage lässt auf ein Scheitern auch der Zweiten Avantgarde schließen. Tatsächlich spricht Asholt ganz am Ende seiner Darstellung von einem „nur noch fragmentarische[n] und momentan-präsentistische[n] Event-Weiterleben der Avantgarde.“

Auffällig oft ist in dem Buch einerseits von „Revolution“, andererseits von „Dilemma“ und „Scheitern“ die Rede. Angesichts des Projekts, Kunst in Lebenspraxis zu überführen, ist Letzteres eigentlich kein Wunder. Statt der erhofften Revolution fand immer wieder ein anderer Prozess statt, nämlich die Absorption der avantgardistischen Kunstwerke in den Kunstmarkt, auch First Economy genannt. Als Ausweg aus dieser Aporie sieht der Kunsthistoriker John Roberts die „Herausbildung einer Second Economy“, einer Art nicht-kapitalistischen Untergrunds, in dem sich „Avantgarde-Flows“ als Vorschein einer anderen, besseren Welt entfalten können. Genauere Bestimmungsmomente dieser Second Economy kann allerdings auch Asholt nicht entdecken.

Macht man Abstriche von dem radikalen und umfassenden Programm der historischen Avantgarde, so wird man am ehesten bei den Surrealisten fündig, einer Bewegung von langer Dauer (longue durée), weil sie von den 1920er Jahren bis weit in die zweite Nachkriegszeit wirksam war. Die Bilanz des Surrealismus fällt bei Asholt im Ganzen positiv aus. Immerhin sei es den Surrealisten mittels ihrer Methoden – „objektiver Zufall, automatisches Schreiben, moderner oder kollektiver Mythos“ – gelungen, dem radikalen Imaginären in Form eines „Bedeutungsuniversums“ in die Welt zu verhelfen und damit Kriterien für die angestrebte Veränderung der sozialen Praxis zu schaffen. Allerdings hätten auch sie sich dabei immer noch innerhalb des Kunstsystems bewegt. Während ihres Exils in den USA sorgten André Breton und andere Surrealisten durch Ausstellungen für die Beachtung ihrer Kunst und bereiteten (womöglich unwillentlich) vor, dass New York anstelle von Paris zur neuen Weltkunstmetropole wurde. Der Surrealismus wurde dort bald vom marktkompatiblen Abstrakten Expressionismus (Jackson Pollock, Mark Rothko und andere) abgelöst.

Es bleibt unentschieden, ob die Beat Generation, von der hier nur die wichtigsten Leitfiguren Allen Ginsberg, Jack Kerouac und William S. Burroughs genannt seien, der Avantgarde zuzurechnen ist. Eine Ausnahmestellung hat sicherlich Ginsbergs auch programmatisch zu lesendes Langgedicht Howl (1956). Asholt stellt aber in Frage, ob bei den Beatniks von der „Emergenz einer literarischen US-Avantgarde“ gesprochen werden kann. Denn bei ihren Texten handle es sich nicht um die Schaffung eines radikalen Imaginären, sondern um den „Ausdruck eines Lebensgefühls“. Eine Anknüpfung an den frühen ‚Manifestismus‘ und damit „das einzige Beispiel einer produktiven Rezeption der (historischen) Avantgarden“ sieht der Autor eher bei den Verlautbarungen „Black Beats“ und nachfolgend der Black Power-Bewegung.

Von den nach dem Surrealismus in Europa entstandenen neuen Bewegungen ist vor allem die Situationistische Internationale (S.I.) mit ihrem Vordenker Guy Débord hervorzuheben. Die in mehreren Phasen verlaufende Geschichte der S.I. führte diese Bewegung sowohl von der Kunst als auch von der vorwiegend kommunistisch ausgerichteten politischen Avantgarde weg – hin zur Schaffung von Situationen, in denen die Utopie für Momente als verwirklicht erscheinen konnte. Diese Idee taucht in Asholts Buch an verschiedenen Stellen auf, etwa in der Formulierung: „Die eigenen, in gewisser Weise performativ gelebten Experimente können und sollen nicht auf Dauer gestellt werden.“ Ein Beispiel für die, auch kontrafaktisch, hoch gehaltenen Parolen der Situationisten ist die von Hanna Mittelstädt ihrem Buch über die Edition Nautilus (2022) vorangestellte Parole „Ne travaillez jamais“ („Arbeitet nie“), eine Wandparole von 1953 aus Paris. Der Nautilus-Verlag, der sich den Situationisten in besonderer Weise verpflichtet fühlt, kann nur durch kontinuierliche Arbeit überleben, aber das in der Parole gespiegelte radikale Imaginäre ist immer gewissermaßen subkutan präsent.

Asholts umfassende Darstellung ist mit dieser knappen Zusammenfassung längst nicht ausgeschöpft. Trotz der überbordenden Faktenfülle und mit vielen Zitaten angereicherten Textwiedergaben gibt es noch Lücken. So ist etwa zu fragen, weshalb der große Aktionskünstler Christoph Schlingensief, der sich sowohl in performativen, multimedialen Kunstereignissen als auch in programmatischen Texten klar als Avantgardist profilierte, nur in einer Fußnote gewürdigt wird. Es ist auch eine Überlegung wert, ob nicht auch herausragende Jazz-Musiker (wie Max Roach, Abdullah Ibrahim und viele mehr), die ihren musikalischen Horizont kontinuierlich erweiterten und sich zugleich gegen Apartheid und Rassendiskriminierung engagierten, einen Platz im Archiv der Avantgarde verdient hätten. Das schmälert aber nicht den Respekt vor der Arbeitsleistung und der Souveränität, mit der der Autor sein Thema beherrscht. Insgesamt liefert Asholt über eine „Theorie-Geschichte“ hinaus Ansätze zu einer neuen Theorie der Avantgarde, die zum Weiterdenken (und Weiterschreiben) anregen und auch Platz für Einwände lassen.

Titelbild

Wolfgang Asholt: Das lange Leben der Avantgarde. eine Theorie-Geschichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024.
474 Seiten , 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835357563

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