Auf der Suche zwischen Leben und Tod

Zur Rede der Literaturnobelpreisträgerin Han Kang anlässlich ihrer Auszeichnung am 10.12.2024

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Han Kang frug anlässlich ihrer Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis am 10.12.2024, wie ein Mensch in dieser vergänglichen und gewalttätigen Welt überleben kann. Sie führte in ihrer Rede aus, wie tief ihr Grundvertrauen in die Menschheit erschüttert ist. Die Menschen in ihren Geschichten sind so wie die Menschen auf dieser realen Erde miteinander verbunden, suchen nach einem Sinn im Leben und fragen sich, was der Grund für die Existenz von sowohl Leid als auch Liebe ist.

In ihrem Roman Die Vegetarierin versucht die Protagonistin Yeong-Hye, sich der Gewalt zu entziehen, indem sie Leben und Welt gleichermaßen ablehnt. Zunächst weigert sich Yeong-Hye nur, Fleisch zu essen. Schließlich isst sie nichts mehr. Ähnlich dem Protagonisten in Franz Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler hungert Yeong-Hye bis zur völligen Entkräftung – zunächst vor ihrer Familie und Arbeitskollegen ihres Mannes, dann ohne Publikum im Krankenhaus. Kafkas Hungerkünstler nähert sich der Freiheit, in dem er sich von seinem Publikum abwendet, die Distanz zu seiner Umgebung vergrößert, menschenunwürdig im Käfig darbt. Isolation und Einkehr. Die letzte Konsequenz wäre die Ablehnung der Existenz. Yeong-Hye vollendet den Prozess, indem sie das Menschsein aufgibt. Auf der Suche nach einer einträchtigen Welt strebt Yeong-Hye nach der vollkommenen Metamorphose. Sie stellt sich auf den Kopf, in der freudigen Erwartung, dass ihre Hände Wurzeln schlagen mögen und Blätter aus ihren Füßen wachsen. Sie muss sich dem Tod nähern, um sich zu retten. Yeong-Hye will eine Pflanze, sie will ein Baum werden.

Ein Baum ist wie ein Mensch. Die Sonne bescheint ihn, er hat Wurzeln, die Wurzeln stecken in Erde, der Regen wässert sie, die Winde streichen über sein Geäst, er wächst, er stirbt, wir wissen wenig von seinem Wachsen und noch weniger von seinem Sterben.

Dies schrieb Ernst Toller in seiner 1933 publizierten Autobiographie Eine Jugend in Deutschland. Toller lag als Kriegsfreiwilliger im Schützengraben des Ersten Weltkriegs, sah Gedärm und Hirn aus toten Körpern quillen und konnte im Graben Tote von Lebenden kaum unterscheiden. Leichen und Lebende hätten die gleichen graugelben Gesichter, manchmal seien nach einem Granatentreffer Halbtote schon teilweise von Erde bedeckt. Die Grenze zum Tod, zum Vergehen und zur Aufnahme des Körpers in die Erde verwischt.

Die Schilderungen aus den Schützengräben ähneln der Gewalt in Han Kangs Roman Menschenwerk. In ihm wird die Niederschlagung der Studentenproteste 1980 in Gwangju beschrieben. Wahllos feuerten die Soldaten in die Menschenmenge. Die Erschossenen verlieren ihr Menschliches. Die Leichen liegen übereinander. Ein Haufen Leichen. „Die Körper sind ineinander verschlungen wie in großer Umarmung“, schrieb Ernst Toller. In Menschenwerk versucht eine Seele verzweifelt, von einem verwesenden Körper auf einem Leichenhaufen loszukommen. Und doch trifft es die Überlebenden noch härter. Überlebende werden gefangen gehalten und gefoltert. Folter, Einsamkeit, depressive Schübe. Wie kann man weiterleben? Ob nach dem Krieg in Deutschland, fast siebzig Jahre später nach dem Massaker in Südkorea oder auch heute in der Ukraine: Die Gräuel und ihre von Ernst Toller und Han Kang beschriebenen Folgen gleichen sich. Han Kang erkannte und unterstreicht in ihrer Rede in Stockholm, dass Gwangju ein allgemeiner Begriff sei, welcher Zeit und Raum durchquert und immer wieder zu uns zurückkehrt. Gwangju ist somit nicht nur der Eigenname einer Stadt, es ist der Punkt, an dem „menschliche Grausamkeit und Würde in extremster Form nebeneinander existierten“, sagte Han Kang. Ein Kulminationspunkt. An diesem Punkt gelingt die Schlussfolgerung aus einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Han Kang wollte die Verleihung des Literaturnobelpreises nicht groß feiern. Stattdessen verwies sie auf die Krisen dieser Welt. Nordkorea drängt zunehmend auf bewaffnete Auseinandersetzungen. Das Land schickt Soldaten nach Russland, um den Überfall auf die Ukraine zu unterstützen. Dort fallen diese in Scharen im gnadenlosen Granatenhagel. Ihre toten Körper sind auf Bildern nach Gefechten nicht mehr zu erkennen. Feuer verbrennen alles, Wälder, Tiere, Menschen, zurück bleibt eine graue Mondlandschaft. „Ein Wald ist ein Volk. Ein zerschossener Wald ist ein gemeucheltes Volk“, schrieb Ernst Toller. Die Botschaft hallt durch Zeit und Raum und wird doch nicht gehört.

Die Menschheit scheint nichts zu lernen. Wer überlebt, kämpft dagegen an, weiter ein Mensch sein zu müssen. Es ist zu unerträglich. Franz Kafkas Hungerkünstler stirbt – womöglich, um den biblischen Idealzustand zu erreichen. Im biblischen Paradies stehen zwei Bäume, ein Baum der Erkenntnis und ein Baum des Lebens, der Unsterblichkeit und Glück verheißt. Lebendige sind auch für Yeong-Hye in Die Vegetarierin unerträglich. Aber Yeong-Hye stirbt nicht, betont Han Kang in ihrer Rede. Sie fährt am Ende des Romans mit ihrer Schwester in einem Krankenwagen in die Ewigkeit. Sie fahren in eine Grauzone zwischen Leben und Tod. Die treibende Kraft ihrer Seele ist die Sehnsucht nach Liebe. Han Kang nimmt ihre Zuhörer an die Hand und weist sie anlässlich der Verleihung des Nobelpreises abermals auf die Verbindungen hin, die Verbindungen zwischen ihren Büchern, welche nach ihrer Veröffentlichung ihr eigenes Leben entfalten, sagt sie. Die Verbindungen zwischen Lebenden und Toten, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Wie schwer ist es, dass wir Mensch bleiben, egal was passiert? Wir können uns nicht in eine Pflanze verwandeln. Und es gibt keinen Sinn unseres kurzen Aufenthalts in der Welt. Alles gipfelt in Han Kangs Text Weiß, einem lyrischen Meisterwerk. Weiß richtet den Blick auf das scheinbar Kleine. Auf tanzende Schneeflocken, auf Atemwölkchen: „Das Wunder des Lebens, sichtbar in Form von in der Luft hängenden, weißgrauen Gebilden.“ Ein Schneegestöber ist feindlich und kalt, „gleichzeitig vergänglich und überwältigend schön“. Das Leben ist vergänglich, sinnlos und zugleich schön. Der gemeinsame und in der Rede beschriebene Weg führt die Autorin und ihre Leserinnen und Leser zur Erkenntnis und Akzeptanz des Absurden – in der Tradition von Albert Camus. Freiheit entsteht, indem wir die Vergänglichkeit akzeptieren und uns entscheiden zu leben. Trotz allem.

Die Rede von Han Kang anlässlich ihrer Auszeichnung am 10.12.2024 ist online verfügbar.