Eine biografische statt einer philosophischen Lesart

Dietmar Horsts Sachbuch „Thea Sternheim oder Das Lächeln der Magier“ widmet sich mehr ihrem Leben als ihrem Werk

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwar stand Thea Sternheim (nicht nur in der postumen Rezeption) öfter im Schatten ihres Mannes Carl. Doch ist das Interesse an der passionierten Tagebuchschreiberin nie erloschen. Spätestens seit 2002 ihre von Thomas Ehrsam und Regula Wyss herausgegebenen Tagebücher Aufsehen erregten, hat sich der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit sogar auf sie und nicht länger auf ihn gerichtet. Erschien 2013 noch eine Doppelbiografie des Ehepaares von Monika Melcherts, so galt 2021 Dorothea Zwirners Interesse schon alleine Thea Sternheim als Chronistin der Moderne.

Und bereits zwei Jahre darauf hat Dietmar Horst eine weitere Lebensbeschreibung der zumindest in literarischen Kreisen bekannten Tagebuchautorin auf den Markt gebracht. Wie es bei Biografien so oft der Fall ist, handelt es sich nicht um ein Fach-, sondern um ein Sachbuch. Das schlägt sich etwa darin nieder, dass der Autor seine Protagonistin zwar zu Beginn noch bei ihrem vollen Namen nennt, sie jedoch schon bald zumeist vertraulich mit ihrem Vornamen adressiert. Bei Thea Sternheims erwachsenen Töchtern greift er gar zu den Kosenamen Mopsa und Nucki.

Horst erzählt das Leben seiner Protagonistin strikt chronologisch, wobei er nicht versäumt, sie unter die Lupe des männlichen Blicks zunehmen und sich kritisch über ihr Aussehen auszulassen:

Theas Gesicht konnte man, sofern man den ästhetischen Maßstab eines Sandro Botticelli anlegte, freilich nicht wirklich als schön bezeichnen. Die Nase war etwas zu groß, die Mundwinkel tendierten bereits in jungen Jahren leicht nach unten, die dunklen Brauen über den braunen Augen waren eine Spur zu dominant. Trotzdem strahlte das Gesicht eine gewisse Anmut aus.

Außerdem sieht er in ihrer „vermutlich naturbedingte[n] Anlage zur körperlichen Fülligkeit“ ein „Problem“. Doch auch andere Frauen bleiben von seinem taxierenden Blick nicht verschont. So preist er Ruth Landshoff etwa als „wunderschön[]“.

Der Autor lässt allerdings nicht nur ästhetische Urteile über das Äußere von Frauen einfließen, sondern wendet längere „Exkurs[e]“ für die Beschreibung verschiedener Wohnorte Sternheims auf. Auch widmet er sich ausführlich ihren Freund- und Bekanntschaften etwa mit berühmten Malern wie Henry Matisse und Pablo Picasso oder Schriftstellern wie André Gide, Klaus Mann und Gottfried André, zu dem die Tagebuchschreiberin „eine geistige Beziehung“ unterhielt, „die vielleicht tiefer war, als alle anderen Vertrauensverhältnisse in Theas Leben“.

Lange vor diesen Bekanntschaften, nämlich im zarten Alter von siebzehn Jahren „brannte“ die 1883 unter dem Namen Olga Maria Theresia Gustava Bauer geborene junge Frau mit einem gewissen Arthur Löwenstein „nach England durch“ um ihn zu heiraten. Da ihre Eltern geargwöhnt hatten, ihr Geliebter habe es nur auf den Reichtum der Familie abgesehen, hatte sie zuvor auf ihr Erbe verzichtet. Das alles geschah im Jahr 1901. Ende des folgenden Jahres gebar sie ihre Tochter Agnes. Wenige Monate darauf lernte sie den „exzentrischen Dandy und Bohemien“ Carl Sternheim kennen und verliebte sich kopfüber in den ebenfalls verheirateten Mann. Zwar gingen beide alsbald eine sexuelle Beziehung ein, doch ließ sich Thea Löwenstein erst 1907 scheiden. Dann aber heiratete sie Sternheim schon ein viertel Jahr später und nahm dessen Namen an.

Horst lässt ganz zweifellos völlig zu Recht kein gutes Haar an Thea Sternheims zweitem Ehemann, der nicht nur „exzentrische Kleidung“ trug, sondern auch ein „dandyhaftes, pseudo-aristokratisches, selbstbewusstes und arrogantes Auftreten“ sowie ein regelrecht „bizarres Benehmen“ an den Tag legte. Hinzu kam seine „zwanghafte Untreue“, die er in seiner „geheimen außerehelichen Schürzenjägerei“ auslebte. Vor allem aber machte er sich sexueller Übergriffe auf seine Tochter Dorothea schuldig. Sie begannen, als diese gerade einmal 14 Jahre alt war.

Sowohl er als auch seine Ehefrau erwiesen sich als miserable Eltern. Denn Thea Sternheim nahm die inzestösen Nachstellungen ihres Mannes über Jahre hinweg tatenlos hin und vernachlässigte ihre Kinder trotz ihrer „fundamentalchristliche[n] Überzeugung“ auch in anderer Hinsicht. Der Ethik des Neue Testament, das Thea Sternheim als „Richtschnur ihres Handelns“ galt, entsprach ihr Verhalten als Mutter jedenfalls nicht.

Später finanzierte sie nicht nur die Drogensucht ihrer beiden „Sternheim-Kinder“, sondern bestritt überhaupt deren Lebensunterhalt, der im Falle ihrer Tochter überaus luxuriös und kostspielig war. Insofern waren sie Horst zufolge „einfach getreue Nachahmer ihrer Eltern“. Denn Thea Sternheim selbst lebte ihrerseits ebenfalls vom Geld der Eltern. Immerhin betrug ihr nach dem 1906 erfolgten Ableben des Vaters erhaltenes Erbe nicht weniger als zwei Millionen Mark.

Die allgemeine Untreue Carl Sternheims und insbesondere die sexuelle Nachstellung gegenüber der minderjährigen Tochter sowie die Drogensucht ihrer „Sternheim-Kinder“ und die überhaupt „dysfunktionalen Familienverhältnisse“ mögen zu Thea Sternheims Suizidversuch 1920 beigetragen haben. Doch sollten noch weitere sieben Jahre vergehen, bis sie sich scheiden ließ. In dieser Zeit erfolgte der finanzielle Niedergang der Familie, zu dem nicht zuletzt die Hyperinflation der frühen 1920er Jahre beigetragen hatte.

Residierte das Ehepaar Sternheim vor und während des Ersten Weltkriegs in dem belgischen Schloss La Hulpe, übersiedelte es bald nach Kriegsende in die Schweiz. Trotzdem kehrte das Ehepaar in der Zwischenkriegszeit immer wieder für längere Aufenthalte auf das Gebiet der Weimarer Republik zurück. Doch noch vor der Machtergreifung der Nazis zog die inzwischen geschiedene Thea Sternheim 1932 nach Frankreich, wohin – unabhängig von ihr – auch ihre beiden „Sternheim-Kinder“ Unterschlupf fanden. Ihr Sohn Klaus floh weiter nach Südamerika, wo er 1946 mit nur 38 Jahren starb. Die Tochter Thea unterhielt Kontakte zu einer kleinen, nicht sehr professionellen französischen Widerstandsgruppe, wurde schnell von der Gestapo verhaftet, gefoltert und ins KZ Ravensbrück verschleppt. Sie starb wenige Jahre nach Kriegsende an Krebs. Auch ihre Drogensucht sowie die Spätfolgen von Haft und Folter mögen für ihren frühen Tod mitverantwortlich gewesen sein.

Thea Sternheim selbst überlebte den Naziterror um ein viertel Jahrhundert und wurde schon bald nach Kriegsende zur „anerkannte[n] Schriftstellerin und eine[r] gefragte[n] Übersetzerin“. Nicht zuletzt aber wiesen sie ihre Tagebücher als „scharfe Beobachterin des Zeitgeschehens“ aus. Ihre Aufzeichnungen bieten nicht nur Horst zufolge „hochinteressante und durchaus unterhaltsame Schilderungen, die auch den Durchschnittsleser ansprechen“. Horsts  besonderes Interesse gilt allerdings nicht den Tagebüchern, sondern den literarischen Werken der Autorin, die sich „weigerte […] publikumswirksame Unterhaltungsliteratur oder politische Tendenzschriften zu liefern“. Stattdessen habe sie „philosophische Betrachtungen in der Nachfolge der von ihr glühend verehrten Autoren Voltaire, Tolstoi und Dostojewski anstellen“ wollen und sei somit „Lichtjahre entfernt“ von der „Unterhaltungsautorin“ Vicki Baum . Ein „charakteristisches Merkmal aller essayistischen und erzählerischen Schriften“ Thea Sternheims sei zudem ihre „Verwendung von Chiffren, deren Bedeutungsinhalt für Uneingeweihte rätselhaft bleiben muss“. Sie haben dem Biografen zufolge dazu beigetragen, „dass große Passagen ihrer literarischen Werke ausgesprochen dunkel, geheimnisvoll, mehrdeutig, ja im wahrsten Sinne des Wortes ‚mystisch’ wirkten“.

Zwar sei Sternheim „im Grunde ihrer Seele“ eine „Meisterin der kleinen Formen“ gewesen. Doch die kürzeren literarischen Werke Sternheims interessieren Horst weniger. Vielmehr richtet er sein Hauptaugenmerk auf den Roman Sackgassen. Denn Sternheims fiktionales Opus magnum habe „bis heute keine angemessene Würdigung“ gefunden. Die „philosophischen Tiefenschichten“ dieses „‚Thesenroman[s]’ par excellence“ herauszuarbeiten, ist denn auch „das zentrale Anliegen des vorliegenden Bandes“ – und nicht etwa Thea Sternheims Leben detailliert nachzuzeichnen.

Tatsächlich aber widmet sich Horst weniger dem vermuteten philosophischen Gehalt des Romans. Vielmehr macht er sich auf die Suche nach Übereinstimmungen zwischen dem Romangeschehen und verschiedenen Ereignissen auf dem Lebensweg Thea Sternheims. Das räumt er an einer Stelle auch ein, wenn er schreibt, dass er die „literarischen Werke der Autorin […] ausführlich analysiert und in den lebensgeschichtlichen Kontext ein[]ordnet“. So seien die „Eindrücke“, welche die Protagonistin Anna von Brüssel habe, „zweifellos autobiografisch“. Überhaupt handele es sich bei der Figur um „das literarische alter ego der Autorin“.

„Das Ausmaß der Übereinstimmung“ zwischen Leben und Werk versucht Horst durch einen „direkten Vergleich von Tagebuchpassagen und Romanszenen“ vor Augen zu führen. Er zieht zwei Beispiele heran. Zunächst stellt er eine Tagbuchstelle und eine Passage aus dem Roman neben einander:

Im Rheinland wird ein Lied gesungen mit folgendem Refrain: ‚Auf, deutsches Weib, nun lehre du den Mann das Schädelspalten.’ (Tagebuch)

Ein Propagandist für Kriegsanleihen prägt die Behauptung ‚An jedem Groschen, den du der Rettung des Vaterlands vorenthältst, klebt das Blut der gefallen Brüder. Einem anderen fällt der Kehrreim ein: ‚Auf deutsches Weib, nun lehre du den Mann das Schädelspalten!’ (Roman)

Dass im Roman ein Zitat herangezogen wird, das auch in den Tagebüchern auftaucht, ist allerdings ein nicht sehr tragfähiges Indiz. Als zweiten Beleg führt Horst einen Satz über die deutsche Kriegsbegeisterung zu Beginn des Ersten Weltkriegs an, den die Autorin ihrer Figur Anna in den Mund gelegt hat: „Ich will da nicht mitmachen!“. Das Zitat „entstammt“ Horst zufolge „unmittelbar einem Notat aus dem Tagebuch“. So unmittelbar ist es tatsächlich allerdings nicht. Denn Sternheim formuliert dort: „ich mache nicht mit!

Kann Horst einmal keine Übereinstimmung von Leben und Werk ausmachen (oder auch konstruieren), müssen „Überlegungen“, „inwieweit die in den Sackgassen geschilderte lesbische Affäre zwischen der 15-jährigen Schülerin Nadja und der 22-jährigen Lehrerin Anna von persönlichen Erfahrungen der Autorin inspiriert waren“, zu seinem Bedauern  „spekulativ bleiben“. Ganz von ihnen lassen möchte er aber nicht.

Jedenfalls sei „die in den Sackgassen zum Ausdruck gebrachte Haltung der Protagonistin Anna […] völlig identisch mit der Haltung der Romanautorin“. Gegen Ende seiner Darlegungen spricht er etwas abweichend von einer „geheime[n] Verdopplung der Hauptfigur“ und erklärt, dass Sternheim „ihr sensibles und verletzliches Ich in der Hauptfigur Anna weiterleben ließ, während Annas beste Freundin Marie die extrovertierte ‚Persona’ der Autorin repräsentiert“.

Im Zentrum weiter Teile des vorliegenden Buches aber steht nicht das Werk, sondern ganz gemäß der Genrezuordnung auf dem Titelblatt die Biografie Sternheims. Auch wird Horsts „zentrale[s] Anliegen“, die „philosophischen Tiefenschichten“ der Sackgassen auszuleuchten, nur mäßig erfüllt. Vielmehr befleißigt sich der Autor im Wesentlichen einer autobiogra(fist)ischen Lesart des Werks und begründet das damit, dass sich „Theas Romanwelt mit ihrer alltäglichen Lebenspraxis [deckte]“. Erst gegen Ende seines Buches beginnt er, auf philosophische oder eigentlich eher mystisch-religiöse Moment des Romangeschehens einzugehen.

Insgesamt aber dürfte Horst den Lebensweg Thea Sternheims im Großen und Ganzen angemessen nachgezeichnet haben. Auch bleiben allgemeine historische Fehleinschätzungen eher die Ausnahme. Fritz Langs Metropolis hat 1927 allerdings mitnichten „für Furore gesorgt“. Tatsächlich fiel der Film bei Kritik und Publikum krachend durch. Daher wurde er nach der Uraufführung sogleich wieder abgesetzt und seine Filmrollen vernichtet, so dass er bis heute nicht vollständig rekonstruiert werden konnte. Stilistisch wiederum fällt die eine oder andere Merkwürdigkeit auf. Etwa, wenn Horst altbacken formuliert, dass „dem Ehepaar im Dezember 1902 [ein Kind] geboren wurde“. Von wem? Einer Leihmutter? Gab es die damals schon? Auch unterläuft ihm schon einmal ein Pleonasmus und er bescheinigt seiner Protagonistin einen „hohen Grad an objektiver Sachlichkeit“. Gibt es denn eine andere? 

Titelbild

Dietmar Horst: Thea Sternheim oder das Lächeln der Magier. Biografie.
Vergangenheitsverlag, Berlin 2023.
276 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783864083075

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