Die Katastrophe und andere ästhetische Glücksfälle

David Lapoujades „Sur la peinture“ (1981) eröffnete spannende Zugänge zur Philosophie von Gilles Deleuze. Durch die Übersetzung von Bernd Schwibs wird dieses bedeutende Werk nun auch einem breiteren deutschsprachigen Publikum zugänglich

Von Silvio BartaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silvio Barta

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ich mir meine eigenen Vorlesungen in gesammelter Form als Buch vorstelle, fällt es mir schwer, den Unterhaltungswert zu erkennen. Denn Verschriftlichungen von Vorlesungen können schnell trocken und eintönig wirken: Das Medium Vorlesung lebt eben vom Performativen – vom Auftritt der Vortragenden, von Charisma und Timing. Letztlich ist eine Vorlesung wie ein Theatermonolog in Echtzeit, idealerweise mit spannendem Inhalt.

Ein Sachbuch ist schließlich weit mehr als eine bloße Sammlung gesprochener Erkenntnisse. Es sollte gut strukturiert sein und über viele Seiten hinweg eine klare innere Kohärenz wahren. Genau das gelingt David Lapoujades Buch: Obwohl es auf Vorträgen basiert, ist es nicht einfach nur eine unkommentierte Transkription. Vielmehr fungiert Lapoujade als eine Art Redakteur, der den Text überarbeitet, kommentiert und sogar Unterbrechungen und Zwischenrufe vermerkt, damit der Gedankengang für die Lesenden stets nachvollziehbar bleibt.

Wer könnte von dieser Lektüre profitieren? Künstler:innen erhalten neue Impulse, um die Reflexion über das eigene Schaffen zu vertiefen. Philosoph:innen gewinnen Einblicke in die Ästhetik der Malerei und zugleich in Deleuzes Konzept des Primats der Differenz. Begriffe wie Differenz, Wiederholung und Werden werden anhand von Cézanne, Van Gogh, Rubens und anderen – historisch bedingt leider rein männlich gelesenen – Künstlern exemplarisch erläutert. Eine Erweiterung um weibliche Positionen hätte dem Buch zweifellos zusätzliche, spannende Perspektiven verliehen.

Für ein breites, an Kunst und Philosophie interessiertes Publikum bietet das Werk einen leicht zugänglichen Einstieg in Deleuzes Denken und Theorien. Zugleich ermöglicht es eine philosophisch fundierte Auseinandersetzung mit Kunst, gestützt auf nachvollziehbare Beispiele und praxisnahe Erklärungen.

Vom Originalton zur Bearbeitung

Dass sich das Buch so unterschiedlich lesen lässt, verdeutlicht den Ansatz des Centre universitaire expérimental de Vincennes (CUEV), an dem Deleuze einst Vorlesungen hielt. Das CUEV sollte Studierende, Berufstätige, Arbeitslose, Aktivist:innen, internationale Gäste und Neugierige zusammenbringen. Genau diese Interdisziplinarität prägt auch den Text von Lapoujade.

Lapoujade, der selbst als Philosoph zahlreiche Publikationen vorzuweisen hat, lässt an vielen Stellen den O-Ton Deleuzes stehen, um dessen spezifischen Sprachfluss und Vortragsstil zu bewahren. Wo der mündliche Duktus zu entgleisen droht, greift er indes ein – mal beherzt, mal subtil –, sodass sich keine bloße Transkription ergibt, sondern eine sorgfältig überarbeitete Fassung. Dabei bedient sich Lapoujade jener Strategien, die auch Deleuze selbst beim Redigieren seiner Interviews anwandte.

Zahlreiche Fußnoten ergänzen, kommentieren und kontextualisieren den Text; so erhält man einen umfassenden Einblick in Deleuzes Denken, ohne sein Gesamtwerk gelesen haben zu müssen. Diese Verweise machen deutlich, wie breit das philosophische Spektrum ist, in das Lapoujade seine Kommentare bettet. Die Fußnoten verorten Deleuzes Überlegungen zur Malerei in einem Netzwerk aus Ideen, das sich von der Ästhetik über die Psychoanalyse bis hin zur politischen Philosophie erstreckt. So können auch Leser:innen, die nicht mit all diesen Werken vertraut sind, die gedanklichen Linien und Einflüsse nachvollziehen. Lapoujade bietet gewissermaßen eine kompakte „Landkarte“ von Deleuzes Schaffen, die es erlaubt, die hier präsentierten Ausführungen besser zu verstehen und, wenn gewünscht, mit weiterführender Lektüre zu vertiefen.

Auch die zahlreichen Verweise auf Gemälde erleichtern den Einstieg in Deleuzes Analysen. Dass das Buch keine Abbildungen enthält, kann sowohl Vor- als auch Nachteil sein. Deleuze selbst sagte dazu: „Reproduktionen mag ich euch nicht zeigen, denn dann hat man keine Lust mehr zu reden. Man sagt sich: ‚Naja, was lässt sich da schon sagen?‘ Ich appelliere also an euer Gedächtnis.“

Zwischen Noumena und Philosophischen Sprüngen ins Unsichtbare

Deleuze nimmt in seinen Ausführungen ein weites Feld philosophischer Themen in den Blick – von Cézannes post-kantischen Überlegungen zu Raum und Zeit bis hin zum „Keim-Chaos“, das seine Vorstellung von fortwährendem Werden prägt. In diesem Kontext rückt die Faszination für Katastrophen als zentrales Motiv ins Blickfeld, vergleichbar mit der Dramaturgie eines Theaters: Das Statische, scheinbar Harmlos-Gute fesselt weit weniger als das Unerwartete und Unkontrollierbare.

Deleuze erkennt darin ein beständiges Werden-Wollen, das sich bis in den eigentlichen Malakt erstreckt – die Malerei bleibt somit in ständiger Bewegung. Hier offenbart sich sein komplexes Verständnis von Differenz: „Es kommt zu einer Art Zerstörung, Vernichtung des Gemäldes. Lässt sich eine Katastrophe überhaupt unter Kontrolle bringen?“, fragt Deleuze. Genau an diesem Punkt erfindet sich das Bild neu oder hört auf zu sein, um etwas anderem Platz zu machen.

„Über die Malerei“ führt uns eindrucksvoll vor Augen, dass Malerei letztlich nur als Aufhänger dient, um über die großen Fragen des Seins zu reflektieren. Hinter den vielfältigen Betrachtungen verbirgt sich eine Philosophie, die weit über Leinwand und Pinselstrich hinausweist. So wird das Bild zum Katalysator für Ideen, die unser Verhältnis zur Welt, zum Werden und zur Differenz in ein neues Licht rücken.

Zugleich lässt uns Deleuzes Herangehensweise an die Malerei unsere eigene Wahrnehmung schärfen. Farben, Formen und Kompositionen werden nicht nur analysiert, sondern regelrecht elektrisiert. Das Unerwartete, das Unkontrollierbare in der künstlerischen Praxis löst unvermittelte Emotionen aus und wird zum Genuss für die Seele – ein sinnliches Echo der philosophischen Tiefe.

Gerade diese Mischung aus gedanklicher Tiefenschärfe und konkreten Bildbeispielen verleiht dem Buch eine fast essayistische Leichtigkeit. Deleuzes kunstvolle Analysen wechseln einfühlsam zwischen abstrakten Theorien und greifbaren Anschauungen. Dieser Rhythmus sorgt dafür, dass die Lektüre trotz komplexer Inhalte nicht trocken wirkt, sondern immer wieder neue Denk- und Bildwelten eröffnet.

Wer sich auf diese Reise zwischen Sein und Kunst einlässt, erfährt, wie Malerei und Philosophie einander durchdringen: Ein ständiges Hin und Her zwischen dem, was wir sehen, und dem, was sich unserem Blick entzieht. „Sur la peinture“ verführt dazu, das Seiende in seinem steten Werden zu betrachten – und lädt uns ein, unser eigenes Denken in Bewegung zu halten.

Titelbild

Gilles Deleuze: Über die Malerei. Vorlesungen März-Juni 1981.
Mit 4 Schwarz-Weiß-Abbildungen.
Aus dem Französischen von Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2025.
432 Seiten , 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783518588253

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