Eine lyrische Bänkelsängerin der Weimarer Republik
Zum 50. Todestag von Mascha Kaléko
Von Manfred Orlick
Mascha Kaléko (1907-1975) zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Neben Irmgard Keun war sie die einzige weibliche Stimme der damaligen literarischen Bewegung der „Neuen Sachlichkeit“. Häufig wurde sie mit Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky und Erich Kästner verglichen, denn ihre Gedichte waren keine feingeistigen Betrachtungen, sondern eine ungezwungene „Gebrauchspoesie“, die alltagstauglich, gegenwartsnah und voller Ironie war. Der verblüffende Erfolg ihrer Lyrik beruhte auf einer gewissen authentischen Naivität und dem modernen großstädtischen Ton. So wurde Kaléko zur Sprecherin der jungen Generation in der Weimarer Republik.
Mascha Kaléko (eigentlich Golda Malka Aufen) wurde am 7. Juni 1907 als älteste Tochter jüdischer Eltern in Schidlow in Galizien geboren. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wanderte die Familie nach Deutschland aus; zuerst nach Frankfurt am Main, wo Mascha bis 1916 die Volksschule besuchte. Dann zog die Mutter mit ihren beiden Töchtern Mascha und Lea nach Marburg und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nach Berlin. Mascha war gerade 14 Jahre; erst langsam wurde die große Stadt zu einer Heimat. 1925 wurde sie Bürolehrling und besuchte verschiedene Abendkurse. Der sture Achtstundentag, dem sie sich unterwerfen musste, war ihr ein Gräuel. Neben der Büroarbeit schrieb sie Gedichte und belegte verschiedene Abendkurse. 1928 heiratete sie den Philologen Saul Kaléko, der sieben Jahre älter ist.
Mascha Kaléko fand rasch Anschluss an die Berliner Bohème. Im „Romanischen Cafe“, dem Treffpunkt der Literaten, Maler und Schauspieler, traf sie Tucholsky, Ringelnatz, Klabund und Kästner. 1929 wurden ihre ersten Gedichte veröffentlicht und ein Jahr später wurde Monty Jacobs, Redakteur der berühmten Vossischen Zeitung, auf das junge Talent aufmerksam. Hier und im Berliner Tageblatt erschienen nun regelmäßig ihre Gedichte unter dem Motto „Berichte vom Alltag für den Alltag“. Keine moderne Lyrik, sondern Gedichte über das Leben der kleinen Leute. Kaléko avancierte schnell zum Wunderkind der Berliner Zeitungen. Mit dem Lyrischen Stenogrammheft hatte sie 1933 ihren ersten großen Erfolg. Gedichte, die für den Alltag bestimmt waren, voller Ironie und Sehnsucht nach dem kleinen Glück. Die begabte Kaléko stand vor ihrem großen literarischen Durchbruch, aber dazu sollte es nicht mehr kommen.
Von der Bücherverbrennung im Mai 1933 war sie noch nicht betroffen. Erst 1935 stellte das Regime wohl fest, dass das „schreibende Fräuleinwunder“ Jüdin war, sodass ihr Erfolg ein jähes Ende fand. Der Verleger Ernst Rowohlt druckte 1935 zwar eine zweite Auflage und ein weiteres Buch, Kleines Lesebuch für Große, doch beide Ausgaben wurden noch in der Druckerei konfisziert. Ab Januar 1937 standen ihre Bücher auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ und sie erhielt Schreibverbot. Nachdem ihre erste Ehe geschieden wurde, heiratete Kaléko den Musiker Chemjo Vinaver. Mit ihm und dem gemeinsamen Sohn Steven verließ sie im Oktober 1938, kurz vor der Reichspogromnacht, Deutschland und emigrierte über Hamburg und Paris nach New York.
Im Exil konnte ihr Mann seine musikwissenschaftlichen Arbeiten fortsetzen, während Kaléko in der deutschsprachigen Migrantenzeitung Aufbau publizierte. Da sie aber weiterhin auf Deutsch schrieb, war ihr jedoch der amerikanische Zeitungsmarkt verschlossen. 1940 versuchte das Ehepaar in Hollywood sein Glück, wo Vinaver hoffte, einen Auftrag als Komponist zu erhalten. Die Hoffnung zerschlug sich jedoch. Nach sechs Jahren, 1944, erhielt die Familie die amerikanische Staatsbürgerschaft. Ihre Gedichte, die in diesen Jahren entstanden, waren Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Deutschland. Mit dem Band Verse für Zeitgenossen erschienen ihre Exilgedichte 1945 im Schoenhof Verlag, Cambridge, Massachusetts.
In den ersten Nachkriegsjahren schrieb Kaléko nur einige Kindergedichte und Chansontexte. 1955 trat sie ihre erste Europareise an, wo sie nach sechzehn Jahren auch ihre alte Heimat besuchte. Der Rowohlt-Verlag hatte Das lyrische Stenogrammheft neu aufgelegt und eine Vortragsreise durch Deutschland arrangiert, die mit vollen Sälen zu einem großen Erfolg wurde. Die Akademie der Künste nominierte die Lyrikerin 1959 für den Fontane-Preis, doch als Kaléko erfuhr, dass ein ehemaliges SS-Mitglied in der Jury saß, lehnte sie die Nominierung ab. Damit endete ihr Comeback im Nachkriegs-Deutschland jedoch nicht, ihre Leserschaft wuchs stetig, besonders nach der Neuausgabe ihres Erstlings Das Lyrische Stenogrammheft im Jahr 1956. Seither ist es der erfolgreichste deutsche Lyrikband.
Zusammen mit ihrem Mann übersiedelte Kaléko im Oktober 1959 nach Jerusalem. Hier war sie aber als deutsche Schriftstellerin völlig unbekannt. Als der Sohn, der eine erfolgreiche Karriere als Dramatiker und Regisseur in den USA begonnen hatte, 1968 unerwartet mit 31 Jahren starb, erholten sich Mascha und Chemjo nie von diesem Schicksalsschlag. Fünf Jahre später starb ihr Mann nach langer Krankheit, was sie nur noch weiter isolierte. Dazu kam der Verlust der Sprache, denn Kaléko sprach kein Hebräisch. Einsamkeit bestimmte die Exiljahre in Israel. Bescheidene Bucherfolge nach dem Krieg halfen nicht mehr; Berlin war ihre lyrische Heimat gewesen. Die Isolierung zerstörte ihren Lebenswillen. Im Jahr 1974 brach sie noch einmal zu einer ausgedehnten Europareise auf und besuchte dabei auch Berlin. Sie trug sich sogar mit dem Gedanken, hier eine kleine Zweitwohnung zu nehmen. Dazu sollte es jedoch nicht mehr kommen. Auf dem Rückweg nach Jerusalem musste sie in Zürich Halt machen, wo sie am 21. Januar 1975 in einem Zürcher Krankenhaus starb und auf dem Israelitischen Friedhof Friesenberg beigesetzt wurde. Ihre Gedichte aus den letzten Lebensjahren wurden erst posthum veröffentlicht.
Der Rowohlt Taschenbuch Verlag würdigt den 50. Todestag von Mascha Kaléko mit zwei Neuausgaben ihrer bekanntesten Lyrikbände: Das lyrische Stenogrammheft und Verse für Zeitgenossen, wobei Das lyrische Stenogrammheft auch die Gedichte und kurzen Prosatexte von Kleines Lesebuch für Große beinhaltet. In ihnen lieh Kaléko dem kleinen Mann, den Alleinstehenden, Kassenpatienten und Kriegerwaisen, den Mannequins, Liftboys oder Stenotypistinnen ihre Stimme wie in der Prosaskizze Mädchen an der Schreibmaschine:
(…) Punkt neun beginnt der „Betrieb“. Neun Uhr zehn, ausgeschlafen oder müde, keinen geht das an, klappern die schmalen Finger des Mädchens schon herum auf der stählernen Schreibkiste. Tipp tipp tick … tipp tipp tick … ein sanftes Klingeln, ping. Wir zeichnen mit vorzüglicher Hochachtung.
(…) So traurig ist das Leben. So öde ist dieses Büro. Keinem geht es so miserabel wie mir. Für dieses lächerliche Gehalt.
(…) Sechs schwarze Kalenderblätter und immer wieder das ersehnte rote. Leben am laufenden Band. Montag bis Freitag findet Alltag statt. Sonnabend mittag um zwei aber fängt der Sonntag an …
Die Gedichte und Texte mit Berliner Dialekt waren leichtfüßig und melancholisch, eine kesse Mischung aus Ironie und Gefühl. Sie begründeten ihren Ruhm als „Dichterin der Großstadt“.
Der rororo-Band Verse für Zeitgenossen wird durch ein Nachwort der Herausgeberin Gisela Zoch-Westphal (1930-2023) ergänzt, die seit 1975 das dichterische Werk von Kaléko verwaltete und mit Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko 1987 Biographische Skizzen, ein Tagebuch und Briefe vorlegte. Die Gedichte, die vorwiegend in New York entstanden, sind neben der Sehnsucht nach Deutschland vom Gefühl der Entwurzelung und Entfremdung geprägt, betont Zoch-Westphal.
Ich hatte einst ein schönes Vaterland –
So sang schon der Flüchtling Heine.
Das seine stand am Rheine,
Das meine auf märkischem Sand.
Durch Vermittlung von Alfred Polgar erschien der Lyrikband Verse für Zeitgenossen 1958 bei Rowohlt; allerdings verzichtete man auf einige Gedichte mit politischem Charakter. Danach wurde er zwei Jahrzehnte lang nicht mehr aufgelegt, erst ab 1978 folgten regelmäßig weitere Ausgaben.
Der Deutsche Taschenbuch Verlag hatte 2012 eine vierbändige Ausgabe der Sämtlichen Werke und Briefe von Mascha Kaléko auf immerhin über 4.000 Seiten herausgebracht. Zum diesjährigen Jubiläum erschien mit Ich tat die Augen auf und sah das Helle eine Auswahl von Gedichten und Prosa, die der Gesamtausgabe entnommen wurden. Die Auswahl besorgte der Schriftsteller Daniel Kehlmann. In seinem Vorwort „Die undeutscheste deutsche Dichterin“ wirft er einen kurzen persönlichen Blick auf die „Großstadtlerche“. Für ihn sind ihre Gedichte „wieder am Leben, ein Schatz an Form, Schönheit und weiser Melancholie“. Solange man deutsche Gedichte noch liest, „werden jene von Mascha Kaléko dabei sein“.
Das mp3-Hörbuch Ich tat die Augen auf und sah das Helle von GOYALiT macht den ironisch-zärtlichen und melancholischen Ton ihrer Gedichte hörbar. Auch eine klagende Dichterin lernt man kennen. Die Gedichte werden meisterhaft interpretiert von Sprecherinnengrößen wie Katharina Thalbach, Katja Danowski, Rosa Thormeyer, Julia Nachtmann und Marion Eskis.
Von Mascha Kaléko ist mehr übrig geblieben als „Drei schmale Bände“, wie sie in Kleine Zwischenbilanz (1956) prophezeite:
Was wird am Ende von mir übrig bleiben?
– Drei schmale Bände und ein einzig Kind.
Der Rest, es lohnt sich kaum, es aufzuschreiben.
Was ich zu sagen hab, sag ich dem Wind.
Ihre Poesie hat überdauert, obwohl man über viele Jahrzehnte den Namen von Mascha Kaléko in den meisten Literaturlexika vergeblich suchte. Selbst in Kindlers Literatur Lexikon wurde sie erst 1998 auf Intervention von Marcel Reich-Ranicki aufgenommen: „Sie ist eine Dichterin, die überall fremd geblieben ist: in Deutschland eine polnische Jüdin, in Amerika eine unbelehrbare Europäerin, in Polen eine Unbekannte.“ Seit Jahren erlebt Mascha Kaléko nun ihre Renaissance und findet den verdienten Platz in der Literaturgeschichte.
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