Sind Schwäne Zugvögel?

Behzad Karim Khani erzählt in „Als wir Schwäne waren” von der Diaspora als Heimat im Deutschland seiner Jugend

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Schlüsselszene, zu der der Erzähler von Behzad Karim Khanis Roman Als wir Schwäne waren immer wieder zurückkehrt, bebildert die Zerstörung der kindlichen Naivität: Der Junge, kurz zuvor mit seinen Eltern aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet, nähert sich im Gebüsch seiner Plattenbausiedlung einem Nest, um ein Küken zu streicheln. Da fährt ihn eine Nachbarin aus dem Fenster schreiend an, so etwas täten deutsche Kinder nicht. Die Beschämung, die Reza erfährt, und die Demütigung, die er auch in den Alltagserfahrungen seiner Eltern wahrnimmt, verwandeln sich bald in ein viel mächtigeres Gefühl: in eine Wut, die den Sound des Romans bildet und die sich in zahlreichen erzählten Episoden entfacht, verstärkt und kanalisiert; unterbrochen und konterkariert aber von Reflexionen des aus der Retrospektive erzählenden Ichs, oft in poetische Sprachbilder gefasst.

In einer Zeit, in der rechte (und rechtsradikale) Ansichten zu migrantischen Jugendlichen und Männern immer neue mediale Verstärker finden, dreht Khani den Blickwinkel um und erzählt aus der Perspektive von Jungs, die an Haltestellen abhängen, keiner geregelten Arbeit nachgehen und jegliche Schwäche zu verbergen suchen – kurz, er erzählt aus einem Leben in der Peripherie Bochums, der Innenseite des „Aquariums“. Mit dieser Metapher erklärt er sich und uns die Siedlung, in der der Erzähler aufwächst, schildert implizit aber auch die Mehrheitsgesellschaft, die sich deren Bewohner vom Leibe hält. Sein autobiographisch gefärbter Rückblick reiht sich ein in eine beeindruckende Reihe postmigrantischer Positionierungen in Literatur, Musik und Theater, die bundesdeutsche Mehrheitsdiskurse erweitern oder in Frage stellen. Khani gelingt dies auf ganz eigene Weise, provokant, intensiv, selbstbewusst, und durch seine poetische Qualität für sich einnehmend.

Reza ist ein Überlebender einer Vertigo-Jugend, eines Lebens am Rande des Vulkans, wie er die Siedlung einmal nennt. Freunde und Bekannte fallen diesem zum Opfer, Reza aber wird zum Schriftsteller. Was ihm über diese Metamorphose hinaus bleibt, ist ein tiefes Verständnis für ungleich verteilte Startchancen, sowie Empathie mit jenen, die von der prekären Existenz in der Siedlung nicht loskommen, weil es dafür unglaublich viel Kraft und auch Glück braucht. Mit Herbert Grönemeyers Bochum-Bild kann der junge Protagonist wenig anfangen, genauso wenig wie mit den verzärtelt aufwachsenden Mitschülern am Gymnasium, das der Erzähler als einer der wenigen ausländischen Kinder aus dem „Viertel“ besucht.

Sein Bochum ist das der Plattenbauten mit immer kaputten Aufzügen, mit überbelegten Wohnungen, frisierten Autos auf Parkplätzen, mit hoher Arbeitslosenquote, Kleindealern und Prügeltrupps. Heimat? Die Eltern, Akademiker aus Teheran, die sich nun weit unter Qualifikation verdingen und die sich von der neuen Umgebung trotz intensiven Deutschlernens immer wieder vor den Kopf gestoßen fühlen, werden hier nicht heimisch. Ihnen gelten die zärtlichsten Passagen des Buchs. Folgerichtig spricht der Roman von der Diaspora als Heimat oder von einer heimatlosen Heimat.

Die Wut, von der schon die Rede war, neutralisiert jeglichen Ansatz zu Kitsch, Säuselei und Melodramatik. Die Wut richtet sich gegen die Ungerechtigkeit einer systemischen Benachteiligung, gegen latenten und offenen Rassismus, gegen Chauvinismus, gegen die Herabsetzung des Anderen, der anders bleibt. Die Wut ist in der Konfrontation des Minderjährigen mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft stets am Brodeln. Und hier kreuzen sich im aus der Retrospektive erzählten Roman des zum Schriftsteller Gewordenen die Diskriminierungserfahrungen mit Klassenfragen, Klassenhierarchien und Status.

Deutschland wird auf diesem Boden zur Kränkung, zur Demütigung – ein Kreislauf von Gewalt, geboren aus Armut, Ausschluss und Benachteiligung, der sicherlich die am schwersten zu verdauenden Passagen des Buchs erzeugt – auch aufgrund ihrer distanzierten Schilderung durch den Erzähler, der selbst in Gewalt verstrickt ist, Opfer und Täter zugleich. Einfach macht es sich Khani nicht mit dieser Überblendung. Er schildert symbolische, diskursive und physische Gewaltakte, die das Leben im Viertel wie ein Stigma markieren; zeigt darunter aber auch tragfähige Beziehungen in der Siedlung auf.

Der Protagonist kommt im Buch als Erwachsener nach seinem Wegzug zu einer späten Erkenntnis: „Dass ich in Wirklichkeit eine Gerechtigkeit herstellen wollte, in der nicht ich so heile bin wie alle anderen, sondern alle anderen so kaputt wie ich.“ Um sich von diesem Verlangen und der mit ihm einhergehenden Gewalt zu lösen, entscheidet sich der Erzähler für eine „Trennung“: Gedanken über das Gehen und Bleiben durchziehen den Roman – versinnbildlicht im Titelbild der Schwäne und der Frage, ob sie Zugvögel sind oder nicht – und verleihen ihm eine zweite, reflexive Ebene. Vor die Wahl gestellt zwischen beiden Optionen, entscheidet sich der als Flüchtling Gekommene für das Weggehen, für das Weiter, das in seinen Worten eine heilsame Trennung ist. „Ich gehe, bevor die Geschichten dieses Ortes zu meinen Geschichten werden.“

Am Ende erlaubt der Erzähler sich (und uns) die Artikulation einer Hoffnung – über ein neues unbestimmtes Dort, für das er Deutschland verlassen werde, um eine „neue Grammatik“ und eine „einfachere Fremdheit“ zu suchen: „Wo es mit Kindsein zu tun hat, wenn ein Zehnjähriger sich einem Vogelnest nähert und nicht mit Herkunft.“

Titelbild

Behzad Karim Khani: Als wir Schwäne waren. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2024.
192 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446281424

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