Melodien des Lebens
Marlies Blauth bedenkt in „morgens ein Atemzug Winter“ aufmerksam Empfindungen im Spiegel der Natur
Von Thorsten Paprotny
Lyrische Erkundungen offerieren weithin verlockende, nachdenklich stimmende Zugangsweisen zum weiten Land der Seele. Manches lyrische Ich bleibt unentwegt sich selbst auf der Spur und lädt die Leserinnen und Leser ein, auch solche gedankenvollen Spaziergänge zu unternehmen. Die bildende Künstlerin Marlies Blauth stellt im schmalen Gedichtband morgens ein Atemzug Winter zudem Verse und Illustrationen vor, die behutsam aufeinander verweisen und sich vielleicht auch dem einen oder der anderen wechselseitig erschließen mögen. Sprachlich bleibt die Dichterin oft geradezu enthaltsam, ja karg, aber nicht kalt. Sie artikuliert sich mit einer gewissen Scheu, möglicherweise auch Schüchternheit, die im positiven Sinne dazu führt, dass poetisch Interessierte nicht mit einem Gefühlsrausch überfordert oder mit wuchtigen Sprachrätseln konfrontiert sind, die manchmal auch nur sprach- und ratlos machen können. Blauth lässt sich auf die Melodie der Worte ein und zeichnet Emotionen, Augenblicke, Fantasien und Momente in wechselvollen Farben nach.
Das Phänomen Schlaflosigkeit etwa verbildlicht sie durch Nennung eines Pulks „dämonenhafter Wesen“, die aber luftig sind und auch nicht greifbar werden, selbst wenn sie schwere, möglicherweise auch schwerblütige Gedanken mit sich bringen, die zur Ruhelosigkeit führen. Das lyrische Ich fühlt sich „gleichsam umzingelt“, es kann nicht anders und schläft nun also nicht ein, einsam in der Nacht, von ebenjenen „Dämonen“ bedrängt, die am lichten Tag eilends zerstreut sind. Gedanken wie „riesige Ballons“ scheinen im Schlafzimmer, in der „Dunkelkammer“, zu schweben, doch „das Herz passt auf“ und lässt nicht zu, dass das bedrängte Ich verzweifelt. Trost schenkt der kommende Morgen, das „leere Geisterschiff“ erreicht aufs Neue das Tageslicht. Doch wer wird die Dämonen der Nacht vertreiben?
Auch tagsüber nimmt das lyrische Ich „zerkratzte Fassaden“ wahr, doch immer Licht, das die Versehrungen zwar nicht aufhebt, aber doch „rosenfarben“ leuchten lässt und etwas sehr Kostbares schenkt: nämlich die Aussicht auf „Hoffnung“, die „vielleicht gedeiht“, wenn nicht hier, so doch anderswo. Möglicherweise besteht diese Aussicht dort, wo ein „Strahlenmeer“ wartet, „tiefblau“, wo Passanten eine andere Melodie vernehmen, nämlich das Rauschen der Farben.
Sodann wird ein Virus bedacht – sind es die dunklen Corona-Jahre? Marlies Blauth nennt das Gedicht – „wir gingen am Virus zugrunde“. Ihr lyrisches Ich spricht von „Isolation“, und wer denkt nicht an diese sehr besondere Zeit der Kontaktverbote. Auf gewisse Weise werden Verordnungen sichtbar, Versuche, eine scheinbare unbeherrschbare Situation mit Maßnahmen zu regulieren, indessen auf zwischenmenschlicher Ebene. Nicht Corona also scheint hier als Infektionsgeschehen auf, sondern die unterschwellige Feindseligkeit, die Worte der Kälte, die zu „Ausrufezeichen“ werden in „sterbenden Dialogen“, wenn aus jedem Miteinander eine Entzweiung wird und eine andere „Einmalmaske“ benutzt wird, hinter der sich Menschen verbergen. Die Masken stehen für die Corona-Jahre, in denen der Schutz vor der Begegnung das oberste Gebot zu sein schien, so dass – ein zeitkritischer Gedanke – nun mehr also „Stille“ verordnet und kurioserweise Distanz zum Mitmenschen als Ausdruck der neuen Nähe bezeichnet wurde. Das lyrische Ich aber sieht nur eine „Stille, die niemals heilt“, die auch dann, so mögen wir erwägen, eintritt, wenn Menschen anfangen, einander nicht mehr anzulächeln, weil sie Masken tragen. Wörter werden zu „Ausrufezeichen“, die nichts anderes sagen als: Bleib fern von mir. Auf diese Weise scheint die Überschrift des Gedichts doch anzuzeigen, wie leicht, wie schnell Beziehungen und natürliche zwischenmenschliche Kontakte wirklich „zugrunde“ gehen können, bis nichts davon mehr übrigbleibt außer Kontaktängsten. Nach einer Weile ist „wieder erlaubt“, einander die Hände zu reichen. Wer träumte nicht in jenen Jahren davon, wer wünschte sich heute nicht ein trostreiches „Abendläuten“ von ferne, das – ein schöner, leuchtender und hoffnungsreicher Gedanke – wieder aufs Neue eine „fröhliche Farbigkeit überall“ schenken kann, jene Farben der Hoffnung, die den Alltag bereichern und verschönern.
Marlies Blauth legt besondere Gedichte vor, die eine langsame, meditative Lektüre erfordern – und auch ihre Bilder erzählen ganz eigene Geschichten. So zum Beispiel über die erwünschte Uhrumstellung, die aus jedem klassischen Ordnungsgefüge ausschert und ganz einfach empfiehlt, die Zeitmesser „von endlos auf heute“ zu stellen und dankbar in der Gegenwart zu leben, gewissermaßen im Takt und Rhythmus der eigenen Lebensmelodie.
![]() | ||
|
||
![]() |