Der Priester-Poet und Revolutionär mit der Baskenmütze
Zum 100. Geburtstag des nicaraguanischen Dichters Ernesto Cardenal
Von Manfred Orlick
„Ich bin Dichter, Priester und Revolutionär.“ So hat sich Ernesto Cardenal immer wieder selbst beschrieben. Der nicaraguanische Dichter, der vor 100 Jahren geboren wurde, zählte mit seiner Poesie zu den großen Hoffnungsträgern Lateinamerikas. Neben dem Chilenen Pablo Neruda gilt er als der wichtigste Vertreter der lateinamerikanischen Poesie. Poesie, Politik, Glaube und soziales Engagement bildeten für ihn stets eine Einheit.
Ernesto Cardenal wurde am 20. Januar 1925 in Granada (Nicaragua) als Sohn einer wohlhabenden Patrizierfamilie spanischer Herkunft geboren. Mit zehn Jahren ging er auf ein Jesuitenkolleg. Nach seinem Literaturstudium in Managua (Nicaragua), Mexiko und New York unternahm er eine erste Reise nach Europa (Spanien und Italien). Anschließend kehrte er 1952 nach Nicaragua zurück, wo er sich einer Oppositionsbewegung anschloss. 1954 beteiligte sich Cardenal aktiv und mit literarischen Mitteln an der April-Revolution gegen die Diktatur von Anastasio Somoza Garcia. Cardenal wurde zur herausragenden Gestalt einer Gruppe von Schriftstellern, die in den frühen 1950er Jahren anfingen zu publizieren. Nach der Niederschlagung des Aufstandes entkam er nur knapp dem blutigen Massaker des Regimes und musste ins Exil gehen. Cardenal wurde Novize im Trappistenkloster in Gethsemani/Kentucky, USA. Dort lernte er den Mönch und Bestsellerautor Thomas Merton kennen, seinen „geistlichen Vater“, wie er ihn nannte. In seinen frühen Gedichten setzte sich Cardenal mit der Liebe und der Geschichte Mittelamerikas auseinander.
Nach seinem Noviziat absolvierte Cardenal in einem katholischen Seminar in La Ceja (Kolumbien) ein Theologiestudium und wurde 1965 in Nicaragua zum Priester geweiht. Während des Studiums entstanden neben Nachdichtungen der Psalmen zahlreiche Gedichte, die in dem Band Oración por Marilyn Monroe (1965, dt. Gebet für Marilyn Monroe (1972)) veröffentlicht wurden, der den internationalen Durchbruch brachte.
Auf einer Insel des Solentiname-Archipels in der Region Río San Juan gründete Cardenal 1966 mit Freunden die christliche Gemeinschaft „Unsere Liebe Frau von Solentiname“, um hier gemeinsam mit Fischern und Bauern das Ideal einer urchristlichen Gemeinschaft zu verwirklichen. Der genossenschaftliche Gedanke wurde gefördert und die Naive Malerei unterstützt, die in Nicaragua mit ihren folkloristischen Elementen als poetische Ausdrucksform des Evangeliums einen hohen Stellenwert hatte.
Als Ende 1972 die nicaraguanische Hauptstadt Managua durch ein schweres Erdbeben verwüstet wurde, verfasste Cardenal die Gedichte Canto Nacional y Oráculo sobre Managua (1973, dt. Orakel über Managua und Nationallied für Nicaragua), die er der Sandinistischen Befreiungsfront FLSN widmete. Im Jahr 1973 besuchte Cardenal zum ersten Mal Deutschland, wo er auf einer Lesereise die Zuhörer*innen auch über die politischen Verhältnisse in seinem Land informierte.
Nach dem Sieg der FLSN über den Diktator Somoza 1979 wurde Cardenal Kulturminister der „Regierung der Nationalen Erneuerung“ (bis 1987) und initiierte eine umfassende Alphabetisierungskampagne. Er war der festen Überzeugung, dass Kultur ein wichtiges Grundnahrungsmittel ist. Sein Ministeramt führte zu einem Bruch mit der römischen Kurie, die ihn mehrfach von der Ausübung des Priesteramtes entband. 1985 entzog ihm der Vatikan das Priesteramt; erst 2019 wurde Cardenal von Papst Franziskus rehabilitiert.
1980 erhielt Cardenal den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In der Begründung der Jury hieß es: „Ein wortgewaltiger Mahner, der sein dichterisches Werk gegen die Hoffnungslosigkeit stellt und die Liebe als einziges Element der Veränderung kennt.“ In den 1980er Jahren entstanden die Lyriksammlungen Tocar el cielo (1981, dt. Den Himmel berühren), Vuelos de victoria (1984, dt. Siegesflüge) und Quetzalcoatl (1985), in denen Cardenal Einblicke in den Revolutionsalltag gab sowie Eindrücke von seinen Reisen verarbeitete.
Als streitbarer Christ und Priester übte Cardenal zunehmend Kritik an dem Führungsstil und der Selbstherrlichkeit des Präsidenten Daniel Ortega und seines Familien-Clans. 1993 trat er offiziell aus der FLSN aus; auch andere Intellektuelle distanzierten sich von dem Regime. Ein Jahr später veröffentlichte Cardenal sein Opus magnum Cántico Cósmico (dt. Gesänge des Universums (1995)). In 43 Gesängen mit annähernd 1.800 Versen setzte er sich mit den grundlegenden Menschheitsfragen und dem Sinn unseres Lebens auseinander.
In den 1990er und 2000er Jahren unternahm Cardenal zahlreiche Lesereisen nach Deutschland. Außerdem wurde er mit verschiedenen Preisen geehrt, u.a. „Premio Pablo Neruda“ (Chile 2009) und „Premio Reina Sofia“ (Spanien 2012). 2005 war er sogar für den Literaturnobelpreis nominiert, der für Nicaragua und ganz Lateinamerika eine besondere Auszeichnung gewesen wäre. Während seiner letzten Deutschlandreise 2017 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Bergischen Universität Wuppertal. Am 1. März 2020 starb Ernesto Cardenal im hohen Alter von 95 Jahren in Managua.
Seit der Gründung 1966 ist der Wuppertaler Peter Hammer Verlag der Literatur aus Afrika und Lateinamerika verpflichtet. Zu den Autoren, die der Verlag in Deutschland bekannt machte, gehörte Ernesto Cardenal. Sein poetisches Werk (Gedichtbände, Aufsätze, Erinnerungen, Meditationen und lateinamerikanische Psalmen) wurde hier in verschiedenen Übersetzungen veröffentlicht.
Zum 100. Geburtstag des Dichters hat der Verlag mit Heimweh nach dem Paradies ein Erinnerungsband herausgebracht, der sein Leben in Bildern und Texten dokumentiert. Die beiden Herausgeber und Literaturwissenschaftler Hermann Schulz und Lutz Kliche erinnern sich in ihren Beiträgen an die Erlebnisse aus vielen gemeinsamen Jahren. Schulz, der von 1967 bis 2001 den Peter Hammer Verlag leitete, besuchte Cardenal erstmals 1969 in Nicaragua, woraus sich eine lebenslange Zusammenarbeit entwickelte. Später begleitete er Cardenal bei seinen Lesereisen durch Deutschland. Außerdem war Cardenal häufiger Gast bei den Evangelischen Kirchentagen und vielen anderen Veranstaltungen, wo er u.a. Heinrich Böll, Dietmar Schönherr oder Günter Grass traf. Aus den Begegnungen entwickelten sich teilweise jahrelange Freundschaften. In keinem Land außerhalb Lateinamerikas war Cardenal so bekannt und beliebt wie in Deutschland. Diese „Seelenverwandtschaft“ steht im Fokus der Neuerscheinung. Wie sehr ihn die deutsche Geistesgeschichte fesselte, zeigen einige Gedichte (Deutschlandreise 1973, Gottesdienst in Düsseldorf, Nürnberg oder Besuch in Weimar), die hier in deutscher Übersetzung abgedruckt sind.
Der Literaturvermittler und Übersetzer Kliche arbeitete fast zwanzig Jahre als Kulturschaffender in Lateinamerika, davon mehrere Jahre mit Ernesto Cardenal im Kulturministerium Nicaraguas. Im Peter Hammer Verlag hatte er über viele Jahre Cardenals Werk als Lektor betreut. Kliche erinnert sich an die erste deutsche Ausgabe von Cardenals Psalmnachdichtungen, die bald „unverzichtbares Material in Gottesdiensten und Beat-Messen, im Religions- und Konfirmationsunterricht“ wurden. In einem weiteren Beitrag weist Kliche darauf hin, dass Cardenal ein Mystiker zwischen Askese und Sinnlichkeit war, seine Beziehung zu Gott war eine sinnliche, ja intime Beziehung.
Andere Beiträge widmen sich mit Textauszügen ausgewählten Werken von Ernesto Cardenal. So übt das Gedicht Gebet für Marilyn Monroe eine schonungslose Kritik an der amerikanischen Kulturindustrie und der Traumfabrik Hollywood. Der Dichter legt Fürsprache für die Filmschauspielerin ein, die gewissermaßen zu einer Ware herabgewürdigt wurde:
Herr,
nimm dieses Mädchen auf, das die ganze Welt kannte als
Marilyn Monroe
(…)
dieses Mädchen, das jetzt vor Dir steht, ohne jedes Make-up,
ohne ihren Manager,
ohne Fotografen, ohne Autogramme zu geben,
einsam wie ein Astronaut vor der Nacht des Universums.
(…)
Herr,
wer es auch sei, den sie anrufen wollte
und nicht erreichte (…)
nimm Du den Hörer ab!
Während seiner Jahre in Solentiname hielt Cardenal die sonntägliche Messe nicht nach der traditionellen Liturgie, sondern als Gespräche aller tief religiösen Teilnehmer, die später in dem Buch El evangelio en Solentiname (1975, dt. Das Evangelium der Bauern von Solentiname (1977)) festgehalten wurden.
Cardenal war stets von der Kosmologie, von der Evolution des Universums vom Urknall bis hin zum menschlichen Bewusstsein fasziniert. Für ihn war das Ende der Utopien aber noch nicht erreicht. In seinem Politischen Testament glaubte er fest, „dass das Himmelreich auf dieser Erde sein wird, aber auch im Himmel. (…) Jede Revolution bringt uns diesem Reich ein Stück näher, auch eine verlorene Revolution. Es wird weitere, neue Revolutionen geben. Lasst uns Gott darum bitten, dass seine Revolution geschehe wie im Himmel so auf Erden!“
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