Geschichten, dem Vergessen entrissen
Mit „Wild nach einem wilden Traum“ beendet Julia Schoch ihre dreiteilige „Biographie einer Frau“
Von Dietmar Jacobsen
In „A., einer Künstlerkolonie im Nordosten der USA, im sogenannten Hudson Valley“ begegnet Julia Schochs namenlose Ich-Erzählerin im Herbst 2002 dem „Katalanen“. Wie sie selbst, die zu jener Zeit nur ungern an sich als an eine Schriftstellerin denkt, hat er gerade sein erstes Buch veröffentlicht. Anders als ihres scheint seines allerdings in seiner Heimat äußerst erfolgreich zu sein. Mit seiner „Figur eines Ringers, der nicht mehr aktiv ist“, einer auffälligen Zahnlücke und einem Unterlippen-Piercing, das sie für ein Zeichen seiner Anfälligkeit für Moden hält, macht er nicht unbedingt Eindruck auf die gut dreißigjährige Frau. Aber als er am Kennenlern-Abend der kleinen Künstlergruppe aus aller Welt, die sich hier versammelt hat, um aus gegenseitigem Austausch Profit zu ziehen, über sein nächstes Projekt spricht, kann sie ihre Faszination nicht leugnen. Und kurz darauf – ein Fingerzeig genügt – folgt sie ihm in sein Bett.
Im dritten Buch ihrer Biographie einer Frau – vorhergegangen sind die von Publikum und Kritik durchweg positiv aufgenommenen Romane Das Vorkommnis (2022) und Das Liebespaar des Jahrhunderts (2023) – lässt Julia Schoch ihre Ich-Erzählerin von einer intimen Begegnung berichten, einer Affäre, die von vornherein weder von dem „Katalanen“ noch von Schochs Ich-Erzählerin auf Dauer angelegt zu sein scheint. Und die Erinnerung an jene Wochen im Hudson Valley, in denen sie vergeblich versuchte, das erste Kapitel ihrer Dissertation Utopien in der neueren Literatur zu Papier zu bringen, während sie gleichzeitig jedem Wink des „Katalanen“ folgte und dabei unwillkürlich eine Erzählung in ihrem Kopf Gestalt annahm, die bis in ihre späte Kindheit zurückreichte, führt sie alsbald an die unterschiedlichsten Schauplätze ihres Lebens zurück.
Einer davon, der früheste innerhalb ihrer Erinnerungen, liegt im heutigen Mecklenburg-Vorpommern, „am Rande der Garnisonsstadt E. am Stettiner Haff“ – Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, ist als Tochter eines NVA-Offiziers in Eggesin aufgewachsen –, wo die 12-Jährige bei einer Fahrradfahrt durch den Wald, in dem der Militärstützpunkt ihres Vaters liegt, auf den „Soldaten“ trifft. Wie dem „Katalanen“ wird auch ihm von Julia Schoch weder Vor- noch Nachnamen zugebilligt, sondern der knapp 20-Jährige bleibt, wenn im Buch die Rede auf ihn kommt, immer „der Soldat“.
Ohne Angst und voller Neugier nähert sich das Mädchen dem Unbekannten, erfährt, dass er, der sich offensichtlich für das Kriegshandwerk als nicht tauglich befindet und im Zivilleben als Gärtner arbeitet, von seinen Vorgesetzten zum Pilze suchen in den Wald geschickt wurde. Von da an treffen sich die beiden häufig. Es entwickelt sich so etwas wie eine erste Liebesbeziehung des Mädchens. Ein Kuss wird getauscht. Man bringt sich kleine Geschenke mit. Von Sehnsucht wird gesprochen. Er nutzt die wachsende Intimität freilich nie aus, überschreitet keine Grenzen. Auch als man eines Tages vom Sie zum Du übergegangen ist, bleibt immer eine fast schüchterne Distanz.
Er erzählt ihr von seiner Welt, die aus „Pflanzen, Stauden und Blumen“ besteht. Sie revanchiert sich mit ihrem schon seit einiger Zeit gehegten Traum, später im Leben einmal Bücher schreiben zu wollen. Und in diesem Zusammenhang fällt der Satz, den Julia Schoch als Titel über ihr Buch gesetzt hat und mit dem der Soldat das Mädchen ermutigt, nie abzulassen von den Dingen, die sie wirklich will: „Ich bin sicher, du schaffst es, bestimmt. Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum.“
Dass Bücher „geheime Erkennungszeichen“ sein können, erfährt die Erzählerin ebenfalls bei ihrenTreffen mit dem Soldaten. Er liest Sartres Der Ekel in einer zerfledderten Taschenbuchausgabe aus dem Aufbau-Verlag. Sie bedauert, dass sie in ihren zurückliegenden knapp zwölf Lebensjahren noch nichts erlebt hat, was das Aufschreiben lohnen würde. Sein Einwand, dann müsse sie sich halt etwas ausdenken, überzeugt sie nicht. Erst später, nach der Geschichte mit dem „Katalanen“, denkt sie den Satz, der erklärt, warum ihr während ihres Aufenthalts in der Künstlerkolonie A. ausgerechnet jene alte Geschichte in den Kopf kam und darauf drängte, literarisch bearbeitet zu werden: „ Früher oder später kehren alle Schriftsteller zu ihrer Kindheit zurück.“
Wild nach einem wilden Traum ist ein assoziativer Roman. Er verquickt Ereignisse miteinander, die zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenem Personal spielen, aber „einen gemeinsamen Fluchtpunkt haben“. Er springt von Situation zu Situation, lässt sich inspirieren von einem Gefühl, einer Sinneswahrnehmung, einem Klang, einem Wort, einem Satz, einem Namen, einem mit anderen geteilten Erlebnis. Seine Schauplätze, die Lebensstationen der Erzählerin, auf die sie zurückblickt, und die mal oberflächlichen, mal intensiven Begegnungen mit anderen Menschen, an die sie sich erinnert, wechseln abrupt, springen aus der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück.
Leserinnen und Leser erfahren, dass Schochs Heldin zum Zeitpunkt ihrer Affäre mit dem „Katalanen“ verheiratet war und dieser Verbindung, die Höhe- wie Tiefpunkte hatte – in Das Liebespaar des Jahrhunderts, dem zweiten Band ihrer Biographie einer Frau, hat Schoch die Geschichte dieser Ehe bereits beschrieben –, zwei Kinder entsprangen. Man lernt ihren gesellschaftlichen Background kennen – als in der DDR groß Gewordene bedauert sie, weder auf „jahrhundertealte Traditionen“ noch auf ein bestimmtes Milieu zurückblicken zu können: „ich kam immer nur aus einem Staat, schlimmer noch, aus einem System“. Was für den „Katalanen“ deshalb denkbar einfach zu sein scheint, seine Vergangenheit in einem kleinen Dorf und die Sehnsucht danach zu beschreiben, „die alte, versunkene Welt“ aus der Erinnerung wieder heraufzuholen, ihr ein Denkmal zu errichten mit seinen Büchern, will ihr nicht gelingen.
Und trotzdem scheint die Ich-Erzählerin sich von ihrer Vergangenheit am Beginn des Romans noch nicht ganz gelöst zu haben. Gerade dass ihr im Zusammenhang mit ihrer aktuellen Affäre jene tief in die DDR-Zeit zurückreichende Geschichte mit dem Soldaten, der das Mädchen ermutigt, ihren Träumen nicht nur nachzuhängen, sondern alles dafür zu tun, sie auch wahrzumachen, einfällt, ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Es korrespondiert mit einem an den Staat, in dem sie aufwuchs, gebundenen, naiven Versprechen, den Menschen endlich und für alle Zeit aus jahrhundertealten Abhängigkeiten zu befreien und in eine glückliche Zukunft zu führen. Wenn sie nun die in die USA mitgenommenen Kopien und Aufzeichnungen zum Thema Utopien nicht wieder mit nach Hause zurücknimmt, sondern der Gedanke, ihre wissenschaftliche Karriere an den Nagel zu hängen und sich endgültig für eine Existenz als Schriftstellerin zu entscheiden, langsam von ihr Besitz ergreift, deutet sich damit eine entscheidende Wende in ihrem Leben an.
Sie selbst merkt es in den wenigen Tagen, die sie vor ihrem endgültigen Rückflug nach Deutschland und zu ihrem Mann in New York verbringt. Als „geheimes Zentrum der Geschichte“ bezeichnet sie diesen kurzen Zeitabschnitt, in dem sie allein und dennoch glücklich ist. Genauso wie am Beginn der Affäre mit dem Katalanen ein Handzeichen stand, geschah auch ihre Trennung ohne Worte. Adressen und Telefonnummern wurden nicht getauscht, es war ein Ende, hinter dem „neue Arten der Begegnung“ zwischen Menschen, „andere Möglichkeiten“, sich zu verlieben und zu lieben, bereits erahnbar waren. Und auch als man sich Jahrzehnte später auf einer Buchmesse wiederbegegnet, löst den „Katalanen“ wiederzusehen nichts mehr in ihr aus: „Er war mir egal geworden.“
Es war in jenen wenigen New Yorker Tagen wohl die endgültige Entscheidung gefallen, sich jenem „wilden Traum“ zu stellen, zu dem sie Geschichte um den Soldaten zurückgeführt hatte, Schriftstellerin zu werden ohne Wenn und Aber. Deshalb ist Wild nach einem wilden Traum auch nur an seiner Oberfläche die Geschichte einer vergangenen Affäre und der weit in die Biographie der Ich-Erzählerin zurückreichenden Assoziationen, die sie auslöst. Darunter aber geht es um existentielle Fragen und zwei wichtige Wendepunkte im Leben von Schochs Ich-Erzählerin, in die die Autorin viel von sich selbst hineingeschrieben hat.
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