Zwischen Hoffnung und Realität

Sina Scherzant erzählt in „Taumeln“ von Geheimnissen, Freundschaft und einer unbeirrten Suche

Von Laura DeppeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Deppe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wo ist Hannah?

So lautet die zentrale Frage des Romans, auf die Hannahs Schwester Luisa und ihre sieben BegleiterInnen vergebens eine Antwort suchen. Nachdem zunächst eine große Gruppe von Bewohnern eines kleinen Dorfes das vermisste Mädchen Hannah gemeinsam gesucht hatte, verringerte sich die Gruppengröße von Tag zu Tag. Lediglich die Gruppe der acht ausdauernden Suchenden gibt selbst nach zwei langen Jahren nicht auf. Jeden Samstag finden sie sich im Wald zusammen, gehen abseits der Wege und sammeln Beweise. Doch welche Beweise glauben sie bei ihren wöchentlichen Treffen noch finden zu können? Diese Frage scheint niemand so recht aussprechen zu wollen, die gemeinsame Routine ist längst zum Selbstzweck geworden, der die Gruppe zusammenhält.

Das titelgebende Motiv des Taumelns zieht sich durch den ganzen Roman und prägt auch die Figuren: Luisa ist eine junge Frau mit Träumen und Hoffnungen. Gleichzeitig ist sie tief verunsichert und weiß nicht, welchen Weg sie im Leben einschlagen soll. Anders als Frank, der bereits viel Lebenserfahrung gesammelt hat und auf eine gescheiterte Ehe und einen stagnierenden Job zurückblickt. Er wirkt entmutigt und ist auf der Suche nach einem Neuanfang. Insgesamt repräsentieren die Hauptfiguren in Taumeln unterschiedliche Lebensphasen. 

Auch die familiären Verhältnisse und inneren Konflikte der Figuren stehen immer wieder im Fokus des Romans. So verschafft der Ich-Erzähler den LeserInnen einen Zugang zu Luises Gedankenwelt, welche die Entwicklungsprozesse in Hannahs Familie widerspiegelt. Elliptische Sprünge in die Vergangenheit verdeutlichen dabei die Umbrüche im Elternhaus: 

Einmal, als es sehr schlimm war, als ich meinen Vater durch die dünne Wand wimmern hörte, da tippte ich: Erinnerst du dich noch an mich? Ich weiß, klingt komisch, aber hast’n Auto? Kannst du mich vielleicht abholen?

Darüber hinaus nutzt die Autorin regelmäßig beschreibende Erzähltechniken, um einen indirekten Blick auf die Geschehnisse oder die inneren Gefühlswelten der Figuren zu richten. Durch dieses Showing wird es den LeserInnen ermöglicht, tiefer in die Situation einzutauchen.

Zusätzlich findet Autorin dank ihrer emotionalen, metaphorischen Ausdrucksweise immer wieder treffende Worte, die zum Nachdenken anregen: 

Nicht grundlos versuchten Menschen, die Hoffnung unter dicken Schichten aus Stolz zu verbergen, einen Schutzfilm aufzutragen, um Enttäuschungen präventiv abzumildern. Wie oft sagte jemand „Ich hatte mir eh keine Hoffnung gemacht auf den Job, die Auszeichnung, die Liebe?“ Gelogen, so was ist immer gelogen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sina Scherzant: Taumeln. Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2024.
320 Seiten, 23 EUR.
ISBN-13: 9783988160164

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