Zur Waffen-SS, um zu den „Deutschen“ zu gehören
Ein Sohn befragt andere Söhne und Enkel, seinen Bruder und sich selbst: Thomas Casagrandes „Schatten“
Von Dirk Kaesler
Diesem hier zu rezensierenden Buch von Thomas Casagrande muss eine unvorhersehbare Aktualität attestiert werden. In Vorbereitung der vorgezogenen Wahlen zum 21. Deutschen Bundestag hat die Frage, wer „eigentlich“ Deutscher ist, wer „richtiger“ Deutscher ist, wer „wirklich“ zum deutschen „Volk“ dazugehört, ob er sich dazugehörig rechnen darf, obwohl er einen deutschen Pass hat, eine unerwartete Vehemenz bekommen. Zur „Bevölkerung“ Deutschlands gehört, wer hier lebt: so glaubten viele, auch dieser Rezensent. Vom „deutschen Volk“ war lange nicht mehr die öffentliche, politische Rede gewesen. Nun tobt sie wieder. Und sie wird nicht nur „kulturell“, sondern auch „rassisch“ geführt: Soeben wurde „Biodeutsch“ zum „Unwort des Jahres 2024“ gewählt.
Wir erinnern uns an jene Debatten, die Ende der 1990er Jahre leidenschaftlich um die Inschrift „Dem deutschen Volke“ auf dem Giebel des wiederhergestellten Reichstagsgebäudes kreisten. Diese Widmung, die der ursprüngliche Architekt Paul Wallot im Jahr 1894 seinem Werk verpasst hatte, führte von Anfang an zu lebhaften Debatten. Davon seien wenigstens jene in Erinnerung gerufen, die sich am „Gegenprojekt“ des Künstlers Hans Haacke entzündeten, als dieser im Jahr 2000 seine Installation „Der Bevölkerung“ im Lichthof des Gebäudes fertigstellte. Seine damalige Argumentation war es gewesen, dass die ursprüngliche Inschrift“ „historisch belastet“ sei und fast zehn Prozent der Bewohner der Bundesrepublik keine deutschen Staatsbürger seien. Auch diesen gegenüber seien die Abgeordneten des Bundestages „moralisch verantwortlich“. Die Wortkombination „deutsches Volk“ impliziere eine „mythische, ausgrenzende Stammeseinheit“ und sei „mit einem radikal undemokratischen Verständnis der res publica assoziiert“. Dieser „eine Blutsgemeinschaft suggerierende Volksbegriff“ stifte immer noch „Unheil“.
Die aktuellen Debatten, bei denen nach „ethnischen Wurzeln“ und wenigstens mentalen Zugehörigkeitsmerkmalen gefragt wird, erscheinen nicht nur wie Wiedergänger solcher früheren Auseinandersetzungen. Sie erinnern auch lebhaft an jene Diskurse, die in diversen europäischen Gesellschaften nach der „Machtergreifung“ der NSDAP 1933 in Deutschland und der Gründung des „Großdeutschen Reichs“ 1938 geführt wurden. Plötzlich mussten sich Menschen, die sich selbst als Deutsche, als zum „deutschen Volkstum“ gehörend verstanden oder von ihren Mitbürgern schon aus sprachlichen Gründen diesem zugeordnet wurden, entscheiden, wohin sie sich selbst zählten. Und sie mussten abwarten, von wem sie als „zugehörig“ gerechnet wurden.
Diese existentielle Frage beschäftigte vor allem Familiensysteme aus dem sogenannten „Altreich“. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 bezeichnete man damit jene Teile des Großdeutschen Reiches, die vor diesem Zeitpunkt zum Deutschen Reich gehört hatten, nämlich das Sudetenland, der Warthegau, Danzig-Westpreußen, Südostpreußen, Ostoberschlesien, Elsaß-Lothringen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte von SS-Männern, die nicht aus dem Kerngebiet des Deutschen Reiches stammten, führt den Politikwissenschaftler Thomas Casagrande, dessen jüngstes Buch hier vorgestellt werden soll, offensichtlich von einer Etappe der Beschäftigung mit diesem Themenkreis zur nächsten. Bei ihm geht es um Südtirol, jene Gebiete also, die Österreich 1919 an Italien „abtreten“ musste. Mit dem Aufstieg des Faschismus Mussolinis und der damit verbundenen Einwanderungspolitik und Zwangsitalianisierung Südtirols formierte sich ein vielgestaltiger Widerstand der deutschsprachigen Südtiroler. Sie mussten sich in den Jahren zwischen 1933 und 1943 der sogenannten „Option“ stellen, ob sie italienische „Vollbürger“ werden oder nach Deutschland gehen wollten. Von den ca. 250.000 Südtirolern entschieden sich 86 Prozent für Deutschland, ca. 70.000 Menschen verließen tatsächlich ihre Heimat.
Der Vater Thomas Casagrandes, Otto Casagrande (1919-1990), zählte zu jenen, die gegen die Italianisierung waren, und wurde politischer Aktivist der illegalen deutschen Hitlerjugend in Südtirol. Er diente von 1940 bis 1943 in der 2. SS-Division „Das Reich“. Im Jahr 1944 wurde er zum SS-Untersturmführer befördert und zu den italienischen SS-Verbänden versetzt. Erst nach dessen Tod beschäftigte sich Thomas Casagrande intensiv mit Volksdeutschen in der Waffen-SS und schrieb mehrere Bücher zum Thema. Insbesondere wies er darauf hin, dass SS-Freiwillige aus Südtirol in den Jahren 1939/41 in disproportional hoher Zahl die Aufnahme in die Waffen-SS angestrebt hatten und in ihr, gemessen an der überschaubaren Gesamtbevölkerungszahl der Region, überproportional zahlreich vertreten waren.
Seit über zwanzig Jahren setzt sich dieser Politologe und Autor, ehemals stellvertretender Direktor der Schulen des Deutschen Buchhandels, wohnhaft in Frankfurt, mit dem Wirken seines Vaters und dessen Generationsgenossen auseinander. Im ersten Buch über die Banater Schwaben, die seit dem 18. Jahrhundert in Südosteuropa lebten, verdeutlichte Casagrande, dass deren Identität als Deutsche ebenso nachwirkte wie die Erfahrungen, die sie in mehr als 150 Jahren als Minderheit in der Fremde gemacht hatten. (Die volksdeutsche SS-Division „Prinz Eugen“. Die Banater Schwaben und die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen, 2003). Als 1941 deutsche Einheiten der Wehrmacht das damalige Jugoslawien besetzten, wurden sie von den Banater Schwaben euphorisch begrüßt. Als SS-Division „Prinz Eugen“ beteiligten sie sich an der grausamen Bekämpfung der jugoslawischen Partisanen. Casagrande hatte bereits in diesem Buch ein eindringliches Beispiel dafür geliefert, wie ethnische Konflikte über Jahrhunderte wirken und von Neuem auf grausamste Weise aufbrechen können.
Im zweiten Buch über Südtiroler Freiwillige in der Waffen-SS zeigte Thomas Casagrande, dass die Südtiroler Rekrutierungsquote im Vergleich zum Deutschen Reich sowie anderen „volksdeutschen“ Gebieten überproportional hoch lag. (Südtiroler in der Waffen-SS: Vorbildliche Haltung, fanatische Überzeugung, 2015). Eingesetzt wurden die ersten Freiwilligen in den damaligen „Elitedivisionen“ der Waffen-SS oder in den Wachmannschaften der Konzentrationslager. Mit diesem Buch, zusammengefügt aus Kurzbiografien und dem ausführlichen Lebenslauf seines Vaters, stellte Casagrande anschaulich dar, wie es um die Motivation und den Einsatz dieser Südtiroler Männer gestanden hatte. Ziel dieser Untersuchung war eine SS-Geschichte „von unten“, die über die Grenzen Südtirols hinaus einen beispielhaften Blick auf die „junge“ Kriegsgeneration und vor allem auf die unteren Dienstränge in der Waffen-SS warf. Seit der Veröffentlichung seines Buches über die Südtiroler in der Waffen-SS hält Thomas Casagrande regelmäßig Vorträge an Südtiroler Oberstufen-Schulen zur Biografie seines Vaters.
„Eigentlich“, schreibt Thomas Casagrande, „waren all die Jahre seit meiner Kindheit geprägt von der Auseinandersetzung mit ihm. Es hat nie aufgehört.“ Otto Casagrande, der Vater, der den Sohn auch als Toter nicht loslässt, starb im Jahr 1990 in der Nacht vor einem Treffen von SS-Veteranen. Otto Casagrande aus Leifers im Südtiroler Unterland hatte sich als 20jähriger im Jahr 1939 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Er war ein uneheliches Kind, der Vater ein Offizier des italienischen Heeres, den er nie kennengelernt hat. Die Mutter wollte, dass der Sohn eine gute Schulbildung bekommt, doch sie erkrankte an Tuberkulose und starb. Der vaterlose halbwaise Sohn ging zur Waffen-SS. Freiwillig!
Mit diesen ganzen Zusammenhängen mussten und müssen sich nun seine Kinder und Enkelkinder bis heute auseinandersetzen. Und sie sind nicht allein, wie dieses auch technisch sehr schön gestaltete Buch mit seinen zahlreichen Bildern aus den Fotoalben der Familien zeigt: Viele Menschen, die mit dieser Vätergeneration verbunden waren und sind, müssen die überlieferten Erzählungen und das damit verbundene Schweigen bis heute auf sich wirken lassen. Viele von ihnen sehnen sich nach der Entlastung: „Ich glaube nicht, dass der sowas getan hat“, scheint eine der immer wiederkehrenden Formulierungen zu sein, wenn es um die Frage geht, was genau der Vater oder Großvater getan hat. War er aktiv beteiligt am Holocaust, hat er selbst Kriegsverbrechen begangen? Die „transgenerationale Traumatisierung“ (Katharina Drexler) schlägt sich in dem dritten Buch von Thomas Casagrande erschreckend deutlich nieder.
Thomas Casagrande arrangierte Interviews mit acht Kindern und fünf Enkelkindern von Südtiroler SS-Männern aus der Generation seines Vaters. Der Fragebogen ist bei allen Interviewpartnern identisch und im Anhang abgedruckt. Er beginnt mit: „Wann hast du das erste Mal erfahren, dass dein Vater in der Waffen-SS war?“ Die 29. Frage lautet: „Was kann man aus der Geschichte deines Vaters/Großvaters lernen? Was hast du daraus gelernt?“ Allein die Variationen der Antworten auf die Frage „Hat die SS-Geschichte deines Vaters in dir Spuren hinterlassen, die du noch heute fühlst?“ zeigt, dass bei den zwölf Interviewten eine enorme Variation der Be-, bzw. Verarbeitung dieses vermeintlich ähnlichen Schicksals herrscht. Zweierlei fällt auf: Zum einen das erkennbare Vertrauensverhältnis zwischen dem Interviewer und den Interviewten, zum anderen wird erkennbar, dass bei einigen der Befragten „Lücken“ der Erinnerung klaffen oder die Auskunftsbereitschaft erlischt. Erst zum Ende des Buches beantwortet der Autor selbst seinen Fragenkatalog unter der Überschrift „Mein Vater und ich“. Der Text beginnt mit dem oben zitierten Satz über die lebenslange Auseinandersetzung mit seinem Vater.
Dass Personen mit familiärer Herkunft aus geographischen und/oder sozialen „Rändern“ häufig zu den glühendsten Nationalisten zählten und zählen, ist keine sonderlich neue Erkenntnis. Dass die Südtiroler Rekrutierungsquote der SS im Vergleich zum Deutschen Reich sowie anderen „volksdeutschen“ Gebieten überproportional hoch lag, scheint ein Indiz für diese immer wieder empirisch nachweisbare Erscheinung. Diese damals jungen Männer wollten sich und anderen beweisen, dass sie – wenn schon nicht „richtige“ Deutsche – auf jeden Fall zum „deutschen Volkstum“ gehörten. Eingesetzt wurden die ersten Freiwilligen in den damaligen „Elitedivisionen“ der Waffen-SS oder in den Wachmannschaften der Konzentrationslager. Später wurden Rekruten eher den Gebirgsjägern zugeteilt oder ab 1943 den Besatzungstruppen in Italien. Bis Ende des Krieges war ungefähr ein Drittel der Soldaten der Waffen-SS „Volksdeutsche“.
Das hier anzuzeigende Buch von Casagrande, in dem er den Biografien von acht Südtirolern in der Waffen-SS nachgeht und deren Nachfahren befragt, wie diese mit dieser Last in ihrer Familiengeschichte umgehen, ist jedoch keineswegs nur für die Klärung historischer Zusammenhänge wichtig. Es kann vielleicht auch heute dabei helfen, zu verstehen, warum gerade Menschen aus dem sich abgehängt empfindenden Arbeitermilieu, aus ländlichen Milieus in den ostdeutschen Ländern und auch Menschen mit Migrationshintergrund gegenwärtig ihre politische Heimat bei der AfD und dem BSW suchen. Auch sie wollen zur „Mehrheit“ der Deutschen dazugehören und beweisen es dadurch sich selbst und anderen.
Aber auch noch aus einem anderen Grund sollte dieses Buch nicht nur als historischer Rückblick gelesen werden. In jüngster Gegenwart scheint es wichtiger denn je zu sein, sich genauer mit der Geschichte der SS auseinanderzusetzen, mit ihrer Rolle im Holocaust und dem Vernichtungskrieg in Europa. Es sei allein auf die Tatsache hingewiesen, dass das Mitglied des Europäischen Parlaments, Maximilian Krah (Jahrgang 1977), der als Spitzenkandidat der AfD in den letzten Europawahlen kandidierte, sich in einem Interview mit der italienischen Zeitung La Repubblica bemüßigt sah, die bloße Zugehörigkeit zur SS während des Zweiten Weltkriegs zu verharmlosen: „Ich werde nie sagen, dass jeder, der eine SS-Uniform trug, automatisch ein Verbrecher war.“ Man müsse die Schuld von Fall zu Fall bewerten, sagte Krah dort weiter. „Am Ende des Krieges gab es fast eine Million SS-Angehörige. Selbst Günter Grass gehörte zur Waffen-SS.“
SS-Männer und ihre Nachkommen: eine endlose Geschichte. Einige der Männer, die zurückkamen, verherrlichten Krieg und Soldatentum bis zu ihrem Tod, die anderen verstummten. Beides blieb nicht ohne Folgen für das Familienleben von mindestens zwei Nachkriegsgenerationen in Deutschland, in Südtirol und in anderen europäischen Nationen. Wie prägend ist heute der lange Schatten des Krieges für die Nachkommen? In den Gesprächen Casagrandes mit Söhnen, Töchtern und Enkeln von Angehörigen der Waffen-SS werden die erlittenen Verletzungen, die Erfahrungen mit Gewalt und die noch immer aktuellen Spuren der Geschichte durch dieses sehr empfehlenswerte Buch sichtbar. „The past is never dead. It’s not even past.“ Dieses famose Zitat des Nobelpreisträgers William Faulkner aus seiner Novelle Requiem for a Nun (1951) könnte heute von kaum größerer Relevanz sein. Das Buch von Thomas Casagrande beweist es.
Mit der heute üblichen, wenn nicht sogar vorgeschriebenen „Trigger-Warnung“ sei abschließend auf den „Epilog“ der US-amerikanisch-israelischen Psychoanalytikerin und Filmemacherin Ofra Bloch hingewiesen. In ihrem langen, sehr persönlich gehaltenen Brief an Thomas Casagrande werden die ganzen Abgründe der Auseinandersetzung der Nachfahren von SS-Offizieren spürbar. Sie schreibt selbst, wie surreal es sich für sie anfühle, „als US-israelische Jüdin das Nachwort zu einem Buch zu verfassen, dessen Vater der Sohn eines SS-Soldaten ist.“ Allein dieser erschütternde Brief ist die Lektüre dieses rühmenswerten Buches wert.
Erwähnte Literatur
Thomas Casagrande: Die volksdeutsche SS-Division „Prinz Eugen“. Die Banater Schwaben und die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2003. 368 Seiten, 46,00 EUR. ISBN 978-35-9337-234-1.
Thomas Casagrande: Südtiroler in der Waffen-SS. Vorbildliche Haltung, fanatische Überzeugung. Edition Raetia, Bozen 2015. 240 Seiten, 24,90 EUR. ISBN 978-88-7283-539-5.
Katharina Drexler: Ererbte Wunden heilen. Therapie der transgenerationalen Traumatisierung. Dritte Auflage. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018. 160 Seiten, 25,00 EUR. ISBN 978-3-608-89203-1.
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