Anlage, Umwelt, Kontingenz, Schweigen und Schuld

In ihrem Roman „Kleine Monster“ diskutiert Jessica Lind transgenerationale Übertragungen

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Böses schwant den Eltern. Ein Anruf der Klassenlehrerin ihres Sohnes hat sie von ihren Arbeitsstellen weg zu einem Gespräch in die Schule beordert. Luca müsse abgeholt werden, denn es sei etwas vorgefallen. „Es“ sei nicht nur einmal geschehen, so behauptet Alena, das siebenjährige Mädchen, die während der Pause mit dem gleichaltrigen Jungen allein im Klassenraum geblieben ist. Pia, Lucas Mutter, Antiquitätenhändlerin sowie Tischlerin, und Jakob, der Vater, professioneller Schlagzeuger, sind in heller Aufregung. Sie bedrängen ihren Sohn, zu sagen, was genau passiert ist. Letztendlich vertraut Luca seinem Vater an, dass es Alenas Idee gewesen sei, zu zweit im Klassenraum zu bleiben. Er traue sich das wohl nicht, habe sie behauptet.

Für Pia, die Ich-Erzählerin, triggert der Vorfall mit Luca ein Hinabtauchen in die Vergangenheit, gibt ihr den Anlass, sich an ihre eigene Kindheit zu erinnern und sich intensiv mit den Begleitumständen des Todes ihrer jüngsten Schwester auseinanderzusetzen. Linda ertrank im Alter von vier Jahren in einem See in der Nähe des Elternhauses. Dabei war sie mit der mittleren Schwester, Romi, damals sechs Jahre alt, ein Adoptivkind, allein. Niemand weiß genau, wie der tragische Unfall geschehen ist. Romi jedenfalls räumte ein, dass sie Linda habe retten wollen.

Während sich die erzählte Zeit der gegenwärtigen Handlung von Frühherbst bis kurz nach Weihnachten erstreckt, umfassen die parallel dazu montierten Flashbacks einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren.

Nach dem Vorfall in der Schule ist Pia zutiefst verunsichert, weil Jakob und sie sofort aus der WhatsApp-Gruppe der Eltern entfernt werden. Luca lässt sie zuhause, was ihn – so die Mutter seines besten Freundes – eher verdächtig mache. Beim Blick auf den Chat, den diese ihr gewährt, beruhigt sich Pia. Nur das quälende Misstrauen gegenüber ihrem Sohn bleibt bestehen, besonders, als sie mit Jakob und Luca die Familie ihrer Schwägerin besucht. Während Luca mit der dreijährigen Philippa spielt, sich als großer Cousin vorbildlich um sie kümmert, beschleicht Pia die Furcht, dass er übergriffig werden könnte. Ihr Unbehagen eskaliert, als Luca auf eine Blindschleiche einschlägt und sie tötet.

Jakob, der Vater, stellt den ruhenden Pol der Familie dar, selbst als sich am ersten Adventssonntag Konflikte bei und mit Pias Eltern anbahnen: Romi, die früh aus der Familie weggezogen ist und zu der niemand aus der Familie mehr Kontakt hat, ist zum Internet-Star geworden. Als Luca seine Tante auf dem Fernsehbildschirm erkennt, werden seine Großeltern unruhig. Während Pia ihren Sohn einfach schauen lassen möchte, nimmt Jakob ihr, des lieben Friedens willen, die Fernbedienung aus der Hand. In Pia brodelt unbändige Wut.

Kurz vor Weihnachten nimmt Pias Misstrauen gegenüber ihrem Sohn wieder überhand. Nach dem Krippenspiel in der Schule ist Alena verschwunden. Bevor sich herausstellt, dass sie einfach nur allein nach Hause gegangen ist und sie zudem wegen der anstehenden Trennung ihrer Eltern unter großen Belastungen leidet, sperrt Pia ihren Sohn in einen Schrank im Antiquitätengeschäft, um ihn zur Aufrichtigkeit zu zwingen.

Jessica Linds Roman besticht durch einen scharfen und subtilen Blick auf enge verwandtschaftliche Beziehungen – innerhalb der Ursprungsfamilie ihrer Protagonistin, in deren aktueller Kernfamilie und im Konnex beider Konstellationen. Es gelingt der Autorin meisterhaft, eine Vielzahl von interindividuellen Problemen so darzustellen, dass sie sich im Psychogramm der Protagonistin konzentrieren, sie mitunter zwar redundant erscheinen, aber dennoch immer weitere Puzzleteilchen hin zur Reflexion und in gewisser Weise Reinszenierung des Vergangenen bereitstellen. Diese touchieren die Protagonistin aufs tiefste und spiegeln adäquat ihre psychischen Turbulenzen. Am Ende steht die Erkenntnis, dass ein Unglück ohne jeglichen Grund passieren kann – vollkommen kontingent, vom Zufall regiert – und dass bei allen anzunehmenden Verstrickungen im Hintergrund niemandem die alleinige Schuld in die Schuhe geschoben werden darf. Alle direkt und indirekt Beteiligten sind unschuldig schuldig geworden.

Der Weg zu dieser Einsicht ist ein äußerst schmerzvoller: In ihrem Elternhaus habe sich nichts geändert, konstatiert Pia. Da der Unfall niemals aufgearbeitet wurde und das niemals in Gänze wird vorgenommen werden können, so ist zu mutmaßen, intrudiert die Katastrophe immer wieder in das Bewusstsein der Protagonistin und ihrer Eltern. Sie können dem Trauma nicht entfliehen. „Alles ist okay und plötzlich fühle ich mich unwohl, entrückt. Als wäre mein Körper zu groß für das Zimmer. Dann sehe ich in jeder Ecke, was gewesen ist.“

Nach einer kurzen Phase der Trauer türmte sich vor Pia und ihrer Familie die Belastung auf, mit dem Verlust weiterleben zu müssen. Es emergierten unterschiedliche Modi der Verdrängung und der Schuldzuweisungen. Sie blieben zwar im Verborgenen und Opaken, dräuten aber unheilvoll unter der Oberfläche des täglichen Umgangs miteinander. Romi, die nicht leibliche Sandwichschwester, auf die man die Schuld projizierte, wurde zum „Sündenbockkind“, laut dem amerikanischen Psychologen Robert Burney eine der Rollen, die Kindern in dysfunktionalen Familien zugewiesen werden kann. Romi habe die Familie so früh verlassen, das hält Pia der Mutter in einer Auseinandersetzung vor, um für die Erinnerung an Linda Platz zu schaffen. Nur gegenüber sich selbst – in einem ihrer inneren Monologe – gesteht sich Pia ein, dass sie Romi überlegen sein wollte und ihre Schwester manches Mal provoziert habe, um sie zu Aktionen anzuregen, die die Mutter mit Strafen belegte.

Auch mit Schuldgefühlen macht sie vor sich selbst nicht halt. Der Unfall wäre nicht passiert, so sinniert sie, wenn sie, die Älteste der Schwestern, mit am See gewesen wäre, ihre Mutter sie nicht ausgerechnet an diesem Tag wegen einer Erkältung zuhause gelassen hätte.

Die Last des Nichtausgesprochenen determinierte und determiniert alle familiären Beziehungen. Aus einem Schweigen voller Misstrauen und Unterstellungen resultierten bei der Mutter zwei Erziehungsstile, die sich einander widersprachen – ein eher permissiver gegenüber Pia und ein extremautoritärer gegenüber Romi. Noch Jahre später schreibt sie ihr „etwas Dunkles“ zu, vor dem man sie selbst hätte schützen müssen.

Was sich transgenerational in Pias Kernfamilie hinein fortsetzt, ist das Klima erbarmungsloser Unsicherheit und des schwelenden Misstrauens. Anstatt ihrem Sohn zu glauben, begibt sich Pia in einen Strudel voller Unterstellungen – mit dem Vorfall in der Pause als Anlass zu verallgemeinern und nicht nur die Frage nach der Wesenhaftigkeit von Kindern zu stellen. Weit mehr als die Gretchenfrage nach Anlage oder Umwelt fokussiert sie, so wie ihre Mutter, das „Dunkle“, einen Abgrund, der sich in ihrer Familie seit dem Unfall aufgetan habe und der sich in den folgenden Generationen kaum werde schließen können. Dieses Dunkle bedeute, mit „Geistern zu leben“. „Aber“, so sieht sie schließlich ein, „Luca ist nicht Linda, weil er ihr ähnlich sieht, und er ist auch nicht Romi, weil er ihr manchmal ähnlich ist“. Er sei nicht aus Erinnerungen komponiert, sondern ein eigenständiger lebendiger Mensch.

Eine nicht unwesentliche Rolle im Roman kommt der Auseinandersetzung mit exkludierendem Verhalten zu. Lucas Eltern scheinen die Homogenität der Elternschaft aufzuwirbeln – nach dem „Vorfall“ werden sie aus der digitalen Gemeinschaft der Eltern braver Kinder hinauskatapultiert. Pias Befürchtungen, dass ohne Unterlass über sie und ihre Familie hergezogen werden würde, erweisen sich als unbegründet, sind aber nicht einfach nur als „mind reading bias“ zu verharmlosen. Ihre Präsuppositionen zu dem, was vielleicht gesagt werden könnte, wenn sie auch noch so sehr subjektiver Konstruktion unterliegen, formieren ein Heer weiterer Phantasmen, die ein Leben in Balance verunmöglichen.

Die Gemengelage an Themen, kreisend um transgenerationale Traumata und Attribuierungen, verhandelt Lind in meist kurzen Kapiteln, die in nüchtern-parataktischer Rhetorik an sich bilderarm daherkommen – durchsetzt indessen mit Symbolen und intertextuellen Verweisen. Nicht von ungefähr findet in Pias Antiquitätengeschäft ein grandioser Showdown statt. Im Schrank, in den sie ihren Sohn einschließt, auf dass er ihr die vermeintliche Wahrheit sage, verschwimmen die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Indem sie den aufgewühlten Luca endlich befreit, entlässt sie die Monster der Vergangenheit: „Ich habe mein Kind in den Schrank gesperrt, weil ich lieber glaube, dass es böse Kinder gibt, als schlimme Dinge, die ohne Grund passieren, oder Fehler, die aus Liebe gemacht werden. Ein Kind kann nur das glauben, was die Mutter glaubt.“ So entpuppt sich der Schrank als Symbol für das Vergangene, als symbolischer Container, aber genauso – wie in den Chroniken von Narnia von Clive Staples Lewis, auf die die Protagonistin einmal explizit hinweist – markiert er eine Transition in eine fantastische Welt voller Abenteuer, „eine Welt hinter der Welt“, die Pia gleichermaßen unter der Wasseroberfläche des Sees erahnt, in dem ihre Schwester ertrunken ist. Diese Sphäre des Traums, des Unbewussten und des Imaginären konkretisiert sich in Geschichten, für Pia besonders in ihrem Lieblingsmärchen Schneeweißchen und Rosenrot, das die Mutter in guten Zeiten oft erzählte.

Im krassen Kontrast zur Realität sind Gutes und Böses deutlich voneinander getrennt. In der Welt ihrer Familie ist sie immer wieder aufs Neue gefordert und herausgefordert, Grenzen auszuloten und damit zu leben, dass es eine Vielzahl von Graustufen gibt. Es sei Zeit, in den Schattierungen zu leben – so die Schlussfolgerung der Protagonistin. So, wie sie sich als Tischlerin alten Anstrichen und beschädigten Oberflächen widmet, einer Patina, die es sowohl abzutragen als auch zu bewahren gilt, setzt sie sich den individuellen und gleichzeitig archetypischen Monstern aus. Dabei avanciert der Schrank vom locus conclusus zur Durchgangsstation hin zur Befreiung, zu einer Weite, die sich nicht nur in den Chroniken von Narnia auftut, sondern ebenso in einem Buch von Mira Lobe – Christopher will ein Fest –, das Lind erwähnt, ohne den Titel zu nennen. Nach der Erfahrung dieser symbolischen Befreiung ist längst nicht alles gut, aber Pia ist imstande, sich mit Romi zu treffen und sich mit ihr auszusprechen.

Kleine Monster ist ein komplexer Roman, in dem eine Vielzahl grundsätzlicher Fragen des familiären Zusammenlebens brodeln, die das intrapsychische „Kuddelmuddel“ der Protagonistin spiegeln. Manche Themen hätten sich vertiefend diskutieren lassen. aber durch „Anreißen“ und „Anschleifen“, vergleichbar mit der Arbeit von Tischler:innen, die Altes konservieren und in diesem Tun Neues schaffen, werden Leser:innen zum Weiterdenken und Vertiefen aufgefordert.

Titelbild

Jessica Lind: Kleine Monster. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2024.
256 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446281448

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