Verborgene Erinnerungen
Auch der neue Roman „Unmöglicher Abschied“ von Nobelpreisträgerin Han Kang richtet den Blick schonungslos auf ein brutales Massaker
Von Thorsten Schulte
Die vordergründige Handlung des Romans Unmöglicher Abschied der Nobelpreisträgerin Han Kang lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Die Schreinerin und Dokumentarfilmerin Inseon hat einen Unfall, ruft ihre Freundin Gyeongha zu Hilfe und bittet sie, zu ihrer Hütte auf der Vulkaninsel Jeju zu reisen, um einen Vogel zu retten. Denn ihr weißer Papagei muss gefüttert werden. Gyeongha macht sich auf den Weg und gerät in einen Schneesturm. Mit dem letzten Bus, welcher sich auf die verschneiten Pfade wagt, fährt sie in ein abgelegenes Bergdorf. Von dort sucht sie zu Fuß ihren Weg durch einen Wald zur Hütte. Im Zwielicht und im dichten Schneetreiben verschwinden die Baumwipfel, es gibt keine Orientierungspunkte. Die Dunkelheit senkt sich über den Zedernwald herab, den Gyeongha durchquert. In der unbarmherzigen Kälte droht sie Schlaf zu übermannen. Freute sie sich zunächst noch über die schwebenden Schneeflocken und die Schönheit der Eiskristalle, schneidet ihr nun die Kälte scharf ins Gesicht. Die Zeit verschwindet. Was verdeckt der Schnee? Unter ihm öffnet sich ein Abgrund. Gyeongha gerät in einen Fiebertraum und begegnet in ihm der verschütteten Geschichte von Inseons Familie, die mit einem Massaker südkoreanischer Soldaten auf der Insel Jeju verbunden ist.
Gyeongha erreicht die Hütte. In ihr treffen verstorbene, wiederkehrende Seelen und in einer Traumwelt gefangene Schatten der Vergangenheit im Halbdunkel aufeinander. „Alles erscheint durcheinander und zusammenhanglos. Als strömten viele Tänzer gleichzeitig auf eine Bühne“, träumt Gyeongha. Stück für Stück findet sie verborgene Erinnerungen; sie findet Fotos, ausgeschnittene Zeitungsartikel, aufgeschriebene Berichte über das Massaker. Plötzlich taucht Inseon an der Hütte auf, obwohl sie doch im weit entfernten Krankenhaus sein müsste. Gyeongha sieht ihr Blut auf dem Boden der Schreinerei, das Blut bildet einen harten Kontrast zum schneebedeckten Hof. Der Schnee verliert seine Reinheit, seine Unschuld. Viel Blut wurde auf Jeju vergossen, das der Schnee nicht mehr verdecken kann. Inseon glaubte, alles über ihre Mutter zu wissen, und erkennt mitten in der Nacht: „Ich kannte meine Mutter nicht gut.“ Ist Inseon gestorben, ist Gyeongha jemals in der Hütte angekommen? Wer lebt, wessen Zeugenaussage wird zitiert, welche Geisterstimme hallt durch die Nacht, bleibt oft verschwommen. Halluzinationen und Tatsachenberichte vermischen sich. Die Erinnerungen sind da, unter dem Schnee, neben dem Schnee. Der Schnee ist in „Unmöglicher Abschied“ allgegenwärtig. Es muss mit den Händen in hartem Boden gegraben werden, um die Geschehnisse freizulegen.
Die Aufarbeitung der Geschehnisse zwischen April 1948 bis in den Mai 1949 hat in Südkorea erst vor wenigen Jahren begonnen. In Deutschland ist das brutale Massaker, mit dem Soldaten einen Aufstand vermeintlich kommunistischer Rebellen – der „Roten“ – auf Jeju niederschlugen, kaum bekannt. Fast 30.000 Menschen starben damals. Zivilisten, Frauen und kleine Kinder. Mehr als die Hälfte aller Siedlungen wurde niedergebrannt. Einwohner wurden verschleppt und erschossen. Ein Jahr dauerte das Morden. Ein langes Schweigen folgte. Erst im Jahr 2000 verabschiedete die Regierung ein Gesetz zur Aufklärung der Vorgänge, drei Jahre später erkannte sie die Schuld an. Staatspräsident Roh Moo-hyun entschuldigte sich daraufhin offiziell bei den Einwohnern von Jeju. Anlässlich des 70. Jahrestages des Jeju-Aufstands betonte Präsident Moon Jae-in im Jahr 2018, die Regierung bemühe sich, die Überreste von Opfern zu finden.
Han Kang recherchierte lange über das Jeju-Massaker, sie „studierte Material und sah [sich] mit grausamen Details konfrontiert, die beinah nicht in Worte zu fassen sind“, sagte sie in der Rede am 10.12.2024 anlässlich ihrer Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis. Und sie ergänzte, dass sie bei ihren Schilderungen im Roman „so zurückhaltend wie möglich“ geblieben sei. Aber gerade die kurz gehaltenen Beschreibungen der Erschießungen, die Interviews und möglichst objektiven Zeitungsartikel, erschüttern bis ins Mark. Gyeongha fasst im Roman zusammen, was die Interviews über das Massaker in ihr auslösen: „Diesen Sätzen voll Zurückhaltung […] wohnt etwas inne, das in mir eine Resonanz auslöst. Im Lichte der Kerze ziehen sie mich in den Bann, brodelnd wie ein Eintopf aus roten Bohnen, aber mit den übelriechenden Ausdünstungen von Blut.“ Han Kang lässt den Leser die Gewalt nachfühlen, indem sie Worte zitiert, mit welchen Peiniger Gefangene auf bevorstehende Folter vorbereiten. Schonungslos richtet sie den Blick auf das Grauen, auf Menschen ohne Augen und ohne Zungen. Was bleibt, wenn eine Kugel einem Kind einen Teil des Kiefers weggerissen hat; was bleibt von der Gewalt in den Seelen der Überlebenden zurück? Was verbleibt sogar in den Seelen der Nachkommen?
Han Kang stellt die Welt, in der sie lebt, infrage. Sie stellt das Leben infrage. Sie leidet an der Welt – wie Franz Kafka. Mehr noch, sie teilt seine Symbolik und stellt ihren Roman deutlich und klar in seine Tradition. Franz Kafka verglich in seinem Tagebuch seine Existenz mit einer in den Erdboden gebohrten und mit Schnee bedeckten Stange, er sei „vielleicht von der ganzen Welt“ abgetrennt. Zu Beginn von Unmöglicher Abschied liegt die Protagonistin reglos und starr wie eine Eisenstange auf dem Boden ihrer Wohnung, über viele Wochen komplett von der Außenwelt isoliert, aus dem Leben gefallen: „Ein Körper, am Boden zerstört, bettelnd. Dem ein endloser Strom von Blut, Schlamm oder Tränen entweicht“; entmenschlicht, Ungeziefer ähnelnd – unweigerlich sieht der Leser einen verletzten Käfer im Dreck auf dem Boden liegen, aus dem allmählich das Leben entweicht. Die sich anschließende Reise auf die Insel und durch den Schneesturm erinnert an die Atmosphäre in Kafkas Roman Das Schloss. Dort versinkt der angereiste Landvermesser hüfthoch im Schnee. Häuser und Straßen werden vom Schnee überdeckt. Schneeflocken und Kälte peitschen dem Landvermesser ins Gesicht und halten ihn davon ab, sein Ziel zu erreichen. Sein Ziel ist das Schloss, welches in scheinbarer Leere verborgen liegt, von Nebel und Finsternis verschluckt. Han Kang knüpft wie in ihren vorherigen Romanen unmittelbar an Bilder Kafkas an. Deutlich ist die Anspielung der angestrebten Verwandlung der Protagonistin in Die Vegetarierin in eine Blume auf die Verwandlung Gregor Samsas in einen Käfer in Kafkas Die Verwandlung. Samsa kann nicht mehr essen, was er vor seiner Verwandlung aß. Der Vater geht seine Tochter bei Han Kang hart an, weil sie es ablehnt, Fleisch zu essen. Kafka war Vegetarier. So ließe es sich fortsetzen, die Parallelen sind offenkundig, bis hin zu anderen autobiographischen Elementen wie den nächtlichen Beobachtungen Kafkas der von der Straße heraufgeworfenen Lichter und Schatten auf den Wänden in seinem Zimmer und der Bezugnahme hierauf bei Han Kang. Franz Kafka litt an der Welt wie Han Kang heute.
Und so kann ihr Roman Unmöglicher Abschied auch jedem empfohlen werden, der leidenschaftlich und vollkommen in Kafkas Texte eintaucht. Wie schon in Han Kangs Romanen Die Vegetarierin und Menschenwerk sieht der Leser das Blut, fühlt das Leiden und begibt sich irgendwo zwischen Leben und Tod auf die Suche nach einem Grund zu leben. „In Wirklichkeit wollte ich sterben“, flüstert Inseon. Sie changiert zwischen Todessehnsucht und der bewussten Zuwendung zum Leben. Niemand gibt auf, die Beharrlichkeit ihres Strebens spielt eine große Rolle. „Darum kämpfe ich selbst jeden Tag“, erinnert sich Gyeongha. Niemand verabschiedet sich, in Han Kangs Roman gibt es nur auf unbestimmte Zeit verschobene Abschiede, unmögliche Abschiede. Inseon und Gyeongha erkennen den Wert des Lebens und finden sich in einem Zustand wieder, in dem sie nicht mehr überrascht sind, „was Menschen anderen Menschen antun können“. Sie sehen, dass die Verstorbenen, die Opfer des Massakers, anwesend sind: „Sie sind hier.“ Sie sind glücklich. Sie existieren. Als erkennende Subjekte. Menschen entwickeln ihr Wesen aus dem, was ihnen widerfährt. Dies gilt für den Landvermesser K. in Das Schloss, der sein Leben abmisst, wie auch für Gyeongha und Inseon. Leben ist Möglichkeit. Eine meisterhafte poetische, existenzialistische Reise an die Grenze des Lebens.
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